VÖGEL IN GROSS BORSTEL

DER GRAUREIHER

Regelmäßig kann man ihn in Groß Borstel an der Tarpenbek oder im Eppendorfer Moor fischen sehen: Den Graureiher (Ardea cinera), den nach dem Höckerschwan zweitgrößten in Groß Borstel anzutreffenden Vogel.
Die auch Fischreiher genannten Graureiher gehören in der Ordnung der Ruderfüßer (Pelecaniformes) zur Familie der Reiher (Ardeidae). Sie sind in ganz Europa, Asien und Ost- sowie Südafrika verbreitet. Weltweit gibt es über sechzig Reiherarten, von denen im Raum Hamburg aber außer Graureihern nur selten Silberreiher und äußerst selten Purpurreiher zu beobachten sind. Graureiher leben in Deutschland weit überwiegend als Standvögel, nur in geringem Maße als Teilzieher.
Graureiher sind in vielen Lebensräumen anzutreffen, ihre Ansprüche sind gering. Sie benötigen die Nähe zu Gewässern mit Flachwasserzonen, und so trifft man sie an See-, Fluss- und Bachufern, Sümpfen, Teichen, Stränden sowie in Überschwemmungsgebieten und Salzwiesen an. Auch auf Weideflächen können wir sie beobachten, zum Beispiel bei der Jagd auf Mäuse. Nur als Ruhe- und Nistplatz benötigen Graureiher Bäume.
In den letzten Jahren dringen Graureiher zunehmend auch in innerstädtische Gebiete vor. So befindet sich die größte Brutkolonie Hamburgs nur gut fünf Kilometer Luftlinie von Groß Borstel entfernt neben dem Ohlsdorfer Friedhof auf einer kleinen Insel im Bramfelder See. Dort konnten im Frühjahr 2021 in den Bäumen dreißig besetzte Nester gezählt werden. Insgesamt gab es 2021 in Hamburg an vier Standorten 65 Brutpaare.
Graureiher sind groß und kräftig gebaut, erreichen eine Körperlänge von bis zu 100 Zentimetern und wiegen zwischen eineinhalb und zwei Kilogramm. Die Flügelspannweite beträgt zwischen 175 und 195 Zentimeter. Männchen und Weibchen unterscheiden sich äußerlich kaum voneinander, die Männchen sind lediglich etwas größer. Das Gefieder der Graureiher ist an der Körperoberseite mittelgrau, an der Unterseite überwiegend grauweiß und die Stirn ist weiß. Die Flügel sind grau und weisen schwarze Schwungfedern auf. Von vorn lassen sich neben dem Flügelbug weiße Flecken erkennen. Der kräftige, dolchartige Schnabel ist graugelb bis grünlich, in der Paarungszeit orange. Er verfügt über widerhakenartige Randleisten, mit denen glitschige Beutefische festgehalten werden können.
Graureiher fliegen mit langsamen Flügelschlägen und sind dabei an ihrem s-förmig eingezogenen Hals gut von Störchen oder Kranichen zu unterscheiden, die ihre Hälse im Flug ausstrecken. Im Gegensatz zu den meisten anderen Vögeln haben Graureiher am Körperende keine Bürzeldrüse, mit deren Fett sie ihr Gefieder wasserabweisend präparieren könnten. Diese Aufgabe übernehmen die Puder-Dunen-Federn, die sich am Rücken sowie im Bereich des Beckens, der Brust und zwischen den Schenkeln befinden. Diese Dunen-Federn zerfallen in ein weißes, talkumartiges, wasserabweisendes und saugfähiges Pulver, das mit dem Kopf in das Gefieder eingerieben und später mit der an der Mittelzehe befindlichen kammartig gezähnten Putzkralle wieder ausgekämmt wird.
Graureiher erreichen die Geschlechtsreife im zweiten Lebensjahr. Sie leben in der Regel monogam und bleiben für eine Brutsaison mit dem Partner zusammen. In Mitteleuropa errichten die Vögel ihre Nester hoch in den Kronen von Laub- und Nadelbäumen. Bodennester – zum Beispiel im Schilf – sind in Deutschland sehr selten, allerdings existieren in Holland noch große Schilf-Brutkolonien. Früher waren Graureiher nahezu ausschließlich Bodenbrüter. Darin liegt wahrscheinlich die Ursache, dass die Nester, die aus aufeinandergeschichteten Zweigen bestehen, sehr grob gebaut und unvollkommen wirken. Der Nestbau wird von beiden Partnern gemeinsam betrieben. Das Männchen schafft die Zweige herbei, und das Weibchen arbeitet sie in das werdende Nest ein. Der Unterbau wird aus Ästen geformt und schließlich mit kleinen Zweigen vervollständigt. Die Nestmulde polstern die Vögel mit Stroh, Haaren und Federn aus. Graureiher brüten selten allein, meist werden die Nester in Kolonien gebaut. Dies bietet den Tieren größeren Schutz – denn viele aufmerksame Augen sehen einen sich nähernden Nesträuber eher als wenige.
Die Eiablage beginnt ab Mitte März. Weibliche Graureiher legen drei bis fünf hellblaugrüne Eier. Nach 26 bis 27 Tagen schlüpfen die Jungen, an deren Fütterung beide Elternteile gleichermaßen beteiligt sind. Nach weiteren vier Wochen beginnen die Jungen, auf dem Nest und den angrenzenden Ästen herumzuturnen.
Reiherkolonien sind sehr lebhaft, denn zwischen den Vögeln herrscht ständiger Nachbarschaftsstreit, weil sie versuchen, Nistmaterial des Nachbarn zu stibitzen. Und während des Flügge-Werdens sorgen die intensiven Rufe der Jung- und Altvögel für noch größeren Lärm in der Kolonie.
Zur Nahrungssuche wenden Graureiher verschiedene Taktiken an. Entweder schreiten sie langsam durch nicht zu tiefes Wasser, um Beute aufzuscheuchen oder sich anzuschleichen. Ebenso belauern sie in starrer Haltung mit schräg vorwärts gerichtetem Schnabel ihre Beute, um im richtigen Moment zuzustoßen. Darüber hinaus kann man auf Wiesen und Weiden auch Graureiher beobachten, die im Laufen Beutetiere verfolgen und dabei sehr schnell und geschickt vorgehen.
Graureiher nehmen nur tierische Nahrung zu sich, die je nach Jahreszeit und Lebensraum unterschiedlich ausfällt. Hauptsächlich sind es Fische, Amphibien, Krebse, Muscheln, Schnecken, Mäuse und Heuschrecken, aber auch Eier und Jungvögel. Frühmorgens besuchen die eleganten Räuber aber auch gerne private Gartenteiche, um dort einen leckeren Goldfisch zu erbeuten.
Der Graureiher hat relativ wenig natürliche Feinde. Seeadler, Uhus und Habichte sind in der Lage ihn zu töten, bevorzugen aber eher Jungvögel. Marder können als Eierräuber den Brutkolonien erheblichen Schaden zufügen. Kolkraben, Rabenkrähen oder Silbermöwen nutzen die Zeit der meist durch Störungen verursachten Abwesenheit der Elterntiere, um Eier und Jungvögel aus den Nestern zu rauben.
Der Graureiher ist Wild im Sinne des Bundes- jagdgesetzes, jedoch wurde nur in Bayern eine Jagdzeit (16. September bis 31. Oktober) festgesetzt. Mittlerweile existieren Sonderregelungen zum Schutz der Teichwirtschaft in den Bundesländern Thüringen, Sachsen und Schleswig-Holstein. Die „Landesverordnung über die Festsetzung einer Jagdzeit für Graureiher“ legalisiert in unserem Nachbarland Schleswig-Holstein den jährlichen Abschuss von 100 bis 200 Graureihern an Teichen anerkannter Fischzuchtanlagen.
Zum Abschluss klären wir noch eine ganz wichtige Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Reihern und reihern? Die Antwort: Ja! Der für heftiges Erbrechen salopp angewandte Ausdruck „reihern“ hat seinen Ursprung tatsächlich in dem Wort „Reiher“. Er liegt in der Eigenart des Vogels, zum Füttern seiner Jungen vorverdaute Nahrung hochzuwürgen – entweder in das Nest oder direkt in den Schnabel des Nachwuchses. Und zumindest dieser freut sich stets über eine ausgiebige „Reiherei“.

Michael Rudolph