DIE FUSSWEGSITUATION IM STADTTEIL

O WIE ÄRGERLICH

Sonja Tesch, Vorsitzende von Fuss e.V. Hamburg, besuchte den Kommunalverein in Groß Borstel – einen Stadtteil, den sie als Ottenserin nicht häufig ansteuert. Die Redaktion des Boten fragte bei ihr an, ob Sie uns Ratschläge für den Rise-Prozess geben könnte. Sonja Tesch ist engagierte Fußgängerin und eine der wenigen Verkehrsexpertinnen, die sich mit dem Fußverkehr gut auskennen. Für sie ist das Zufußgehen die umweltfreundlichste Verkehrsalternative.

Sonja Tesch von Fuss e.V. und Ulrike
Zeising, Vorsitzende des Kommunalvereins


Wenn wir also etwas für die Umwelt und gegen den Klimawandel unternehmen wollen, dann sollten wir zu Fuß gehen, meint Sonja Tesch. Das dachte sich auch Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris. Sie hatte vor einigen Jahren die Stadt der 15 Minuten ausgerufen. Alles soll fußläufig in 15 Minuten erreichbar sein: Wohnen, Einkaufen, Freizeit, Arbeit – das wäre die ideale Stadt der Fußgänger. Und es klappt!
Mittlerweile ist die Innenstadt von Paris weitgehend autofrei. Auch die Superblocks in Barcelona, die tagsüber und nachts den Autoverkehr aus den Wohnvierteln verbannen, leben auf von dem Gedanken, dass eine Stadt der Fußgänger menschenwürdiger, kommunikations- und klimafreundlicher sowie letztlich auch gesünder wäre. Was inzwischen auch bewiesen worden ist.
Was wir dafür brauchen, ist schnell gesagt: Vorfahrt für Fußgänger. Und was wir haben ist ebenso schnell beantwortet: Wenig Platz für Fußgänger. Aus diesem Weniger ein Mehr zu machen, das ist – so Sonja Tesch – das Bohren dicker Bretter. Oder der Verteilungskampf um Platz im Verkehr.
Bote: „Sonja, wir haben die Mobilitätswende und einen grünen Verkehrssenator in Hamburg. Hat sich das für die Situation der Fußgänger schon positiv bemerkbar gemacht?“
„Ja. Wir kommen jetzt mindestens vor. Zum Beispiel in der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien in Hamburg. Das war vorher nicht der Fall. Aber in der Realität hat sich eher nicht viel getan“, meint Sonja. Sie kam in die Brückwiesenstraße natürlich zu Fuß von der Busstation Warnckesweg. Und es fielen ihr auf diesem kurzen Weg sofort die besonders schlechten Fußwege auf. Zu schmal, hochstehende Gehwegplatten, falsch parkende Autos, herumliegende Elektro- Scooter, schlechte Gehwegbeleuchtung.
Verboten gehören nach Tesch die Gebotsschilder für Fußgänger (Schild 239) mit dem kleinen Zusatzschild „Radfahrer frei“, die sie immer wieder sieht. Dort führt der gemeinsam genutzte Fußweg unweigerlich zu Konfliktsituationen. In der Regel wird der Schwächere zurückgedrängt und kann sich nicht mehr frei bewegen: Ältere, Kinder, Menschen mit Einschränkungen, Rollifahrer, Menschen mit Rollator haben das Nachsehen. „Wir müssen aufpassen, dass die Förderung des Radverkehrs, die wir ja gut finden, nicht zu Lasten des Fußverkehrs geht.“ Wenn etwa 2,5-m-breite Radwege gebaut werden und für den Fußweg nicht einmal ein Meter bleibt.
Dabei ist nur der Fußverkehr geeignet, die Städte und besonders die Stadtteile menschenfreundlich zu machen. Der Fußverkehr ist eine soziale Verkehrsform, bei der man kommunizieren und Kontakte knüpfen kann. Das ist nur möglich, wenn man nicht ständig zur Seite gedrängt wird, wenn ausreichend Platz vorhanden ist. Also keine im Weg parkenden Autos oder E-Roller die Kommunikation behindern. Keine andere Verkehrsform ermöglicht so viel Kommunikation während ihrer Ausübung. Um dafür eine menschenfreundliche Situation zu schaffen, braucht es Voraussetzungen: Plätze müssen geschaffen werden, ausreichend breite Wege, auf denen man sich begegnen kann, und Sitzgelegenheiten, Bänke.
Häufig sind die Autos das Problem. Sie stehen im Weg, nehmen zu viel Straßenraum ein. Und parken sehr oft falsch. Jetzt, nach Einführung des neuen Bußgeldkatalogs, könnte man die Falschparker doch auch anzeigen? Sollte man das? Nein, meint Sonja Tesch, das ist Aufgabe des Staates. Und warum geschieht da nichts? Warum greift die Polizei nicht ein? „Das ist in Hamburg eine besondere Situation“, findet Sonja Tesch. „Wir haben hier in den Straßenverkehrsbehörden engagierte Planer, und auch die Planungsfirmen, die beauftragt werden, haben gute Ideen. Aber bei der Polizei sitzen dann ziemlich hartleibige Vertreter, denen das Auto das Verkehrswichtigste ist. Ich wundere mich immer, welche Macht die Polizei in Hamburg hat. Da kann eine Bezirksversammlung beschließen, hier soll ein Fußweg hin, und wenn die Polizei dann Nein sagt, dann wird das nicht gemacht. Diese Regelung mit der Polizei ist ein faschistisches Erbe, das aus dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 resultiert.“
Natürlich kann die regelwidrige Verkehrssituation in den Straßen nicht allein der Polizei vorgeworfen werden. Einen guten Anteil daran hat auch die Politik. Man kann der Polizei aber vorwerfen, mit zweierlei Maß zu messen, also eine Situation durch planmäßiges „Übersehen“ von Verkehrsverstößen zu tolerieren und damit geradezu Gewohnheitsrechte zu schaffen. Mittlerweile ist die Situation in vielen Stadtteilen außer Kontrolle geraten.
„Wieso, hier haben wir immer geparkt“, wird in leicht genervten Ton von Anwohnern behauptet, wenn sie ihr Auto falsch auf dem Bürgersteig abstellen. Oft gibt es auch keine andere Möglichkeit, in der Nähe zu parken. Und gerade jetzt in der kalten, dunklen Jahreszeit hat niemand Lust, kilometerweit weg zu parken. Die Kehrseite: Der Rollifahrer muss auf die teils sehr belebte Fahrbahn ausweichen, wenn er an den immer breiter werdenden Autos vorbeikommen will. Oder das junge Elternpaar mit dem Kinderwagen? Es schiebt sicher auch nicht gerne den Nachwuchs in den fließenden Verkehr. Wohlgemerkt Autoverkehr.
Wer also sollte hier zurückgedrängt werden? Diejenigen, die aus Bequemlichkeit die Regeln brechen, und die aus Rücksichts- oder Gedankenlosigkeit mehr Platz einnehmen, als ihnen nach dem Gesetz zusteht? Dass sich die Polizei pauschal auf die Seite der Gesetzesbrecher gesellt, kann ernsthaft niemand behaupten. Das Gegenteil ist allerdings leider auch nicht richtig. Und so kommt es immer wieder vor, dass besagte Rollifahrer oder Kinderwagenschieber sprichwörtlich und tatsächlich im Regen stehen gelassen werden.
Genau das ist seit der Elektrokleinstfahrzeuge- Verordnung von 2019 zu beobachten. Überall liegen die Elektroroller herum. Sie versperren oft die Wege für Fußgänger. Ärgerlich klingeln die Radfahrer, wenn man den Radweg als Fußgänger mitbenutzen muss, was nicht erlaubt ist, es ist ja ein Radweg.
Unser Kommunalvereinsmitglied Ralf Keller rief in der Redaktion an: Können Sie darüber nicht einmal schreiben? Ja gerne, Herr Keller. Denn Herr Keller, der etwas gehbehindert ist und Rollator schieben muss, hat so ziemlich alles versucht, um die Roller, die ihm regelmäßig den Weg an der Ecke Borsteler Chaussee/ Spreenende versperren, vom Fußweg zu bekommen.
Die Polizei behauptete etwa, die Roller dürften dort stehen. Was falsch ist. Sie behauptete ferner, sie sei nicht zuständig, wenn der Fußweg durch E-Roller versperrt werden würde. Was auch falsch ist, wenn man nicht vorbeikommt. Herr Keller solle den Vermieter dieser Roller anrufen, damit der für Abhilfe sorgt. Herr Keller hat im übertragenen Sinne Gott und die Welt angerufen, sogar für den Eingabenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft eine Petition geschrieben. Es hat nicht geholfen.
Es hat nicht nur nicht geholfen, es hat sogar System! Die Roller werden von den Vermietern systematisch und demonstrativ werbewirksam an diese Ecken gestellt, damit sie jeder sofort sehen kann. Der Fußweg wird sozusagen als Ladenfläche, als Verkaufs- bzw. Vermietungsraum genutzt. Umsonst und draußen. Außerhalb jeder Legalität. Oft sind es auch die Nutzer, die es den Vermietern nachmachen oder deren prekär beschäftigten Aufstellern (Juicer genannt, sie sammeln leer gefahrene Roller ein und laden die Akkus auf.).
Weder umweltpolitisch noch gesundheitspolitisch machen diese Roller Sinn. Schon ist zu beobachten, dass Nutzer deutlich weniger zu Fuß gehen, und natürlich sind sie einer erhöhten Gesundheitsgefahr durch Unfälle ausgesetzt. Also: Warum unternehmen wir nichts gegen diesen Wahnsinn? Um Sonja Tesch zu zitieren: Es ist das Bohren dicker Bretter. Machen wir uns also, wenn wir etwas verändern wollen, auf den Weg. Zu Fuß natürlich. Seid Ihr dabei?
Text, Fotos: Uwe Schröder