“Posthalters Töchterlein in Groß Borstel”

Artikel von Katharina v. Boxberg aus dem Jahre 1983

Foto: Borsteler Chaussee 161 – ehemalige Postagentur von 1905 – 1912

In ihrer hellen Erdgeschoßwohnstube, gelegen in der Straße im Winkel Nr. 10, sitzt mir die blühend aussehende, fast faltenlose 89jährige mit wachen Augen gegenüber. Sie lacht gern, während sie mir erzählt von ihrem langen, ereignisreichen Leben – auch sie wieder eine Vertreterin der so vitalen Generation derer über 80, die ich immer von neuem bewundere, nach allem, was gerade sie durchgemacht habt. ´Durchmachen` heißt hier ja zumeist Durchkämpfen in diesem seit Menschengedenken härtesten, blutigsten Jahrhundert.
Elly Bergmann, geborene Möller, hat einiges in ihrer Jugend erlebt, das Sie, liebe Groß Borsteler, vielleicht mit eigenen Erinnerungen verbindet? Hören Sie Elly Bergmann jetzt ein wenig zu:
 

Sie stammt in mütterlicher Linie von den Groß Borsteler Remstedts ab. Vater Wilhelm Möller und die Mutter Elise kamen beide aus Langenhorn, waren ´Landmannssohn` und ´Landmannstochter`, wie sich Frau Bergmann ausdrückt. Ihre Eltern besuchten auch beide dieselbe Langenhorner Schule, und Wilhelm muß schon damals ein ´plietscher`Junge gewesen sein, besaß er doch immer die meisten Knöpfe (Hosenknöpfe) zu ihren Schuljungenspielen.  

1892 verlor die gute Mutter zwei kleine Mädchen an der damals in Hamburg grassierenden Choleraseuche. Und so kam Elly 1894 als Wunschkind zur Welt. Sie wurde am Dammtor geboren, wo der Vater damals eine Gaststätte hatte. Später lebte er als Privatier noch in anderen Stadtteilen, und so ging die kleine Elly zunächst zur Volksschule am Papendamm, später in die Dorfschule Flottbek (Oh je, die hatte eine andere Art im Rechnen – auch das gab`s damals schon, wenn einer wegen Umzugs die Schule wechseln mußte). Das Abgangszeugnis aus der 1. Klasse, 1908, an der Hohen Weide weist die Elly Möller als ausgezeichnete Schülerin aus, fast alles 1-2, von Betragen und Ordnung zu schweigen! Übrigens war sie zur Hohen Weide von der Schule am Eppendorfer Weg gekommen, weil die Hohe Weide damals unter Schülermangel litt. Sie sehen, liebe Leser, nichts Neues unter der Sonne – Elly fuhr damals schon mit der Straßenbahn 24 von Groß Borstel aus hin, ging aber auch manchesmal zu Fuß. 

Ihre Konfirmation erlebte sie in St. Johannis in Eppendorf unter Pastor Bernitt, der Elly Möller 1924 dann mit Ludwig Bergmann traute. Elly machte übrigens vielerlei Ausbildungen durch: Zuerst erlernte sie die Damenschneiderei an der Rothenbaumchaussee, später stellte sie Meldescheine bei der Polizei aus, war in einer Sparkassenzweigstelle in Altona tätig und lernte schließlich ´Postscheckamtgehilfin` in der 4. Etage der Schlüterstraße.  

Aber wie kam denn nun Familie Möller nach Groß Borstel? Ganz einfach: Eine Freundin der Mutter, die in Poppenbüttel die Postagentur führte, machte auf die freie Agentur in Groß Borstel aufmerksam. Vater Wilhelm kaufte also für ca. 15.000 Mark das gerade erbaute Haus Borsteler Chaussee 161, wo er im Jahre 1905 die Postagentur eröffnete. Im Haus 161 an der Chaussee war das Zimmer vorn am Eingang ´die Post`. Links eine Schreibgelegenheit, geradezu die Paketannahme mit Waage, rechts eine Schalterwand mit Abfertigung und zur Wand der Tisch mit dem Morseapparat (für dessen Bedienung in der ersten Zeit extra ein Telegrammassistent aus Hamburg herbeikam!). In diesen hochamtlichen Raum trat u.a. Herr Geffert, der später ja Doktor wurde, und kaufte seine Briefmarken. Aber die kleine Elly wagte damals noch nicht, das Wort an ihn zu richten.Hinter dem Hause hatte die Familie Möller ein Häuschen im Garten, darin die Hühner und das Schwein wohnten, das zu Weihnachten geschlachtet wurde. 

Diese Jahre von 1905-1912 in der Postagentur zu Groß Borstel müssen wunderschön gewesen sein für Elly Möller. Da kam früh um 7 Uhr schon der Postwagen, manchmal blies der Postillon, manchmal aber auch nicht! Sehr früh am Morgen fuhren auch die drei Briefträger per Rad von der Martinistraße/Ecke Erikastraße los – wo damals das Postamt 20 logierte – und wohin Ellys ältere Schwester Martha zweimal im Monat die Abrechnungen bringen mußte. Drei Briefträger also zur Versorgung Groß Borstels schon damals! 

Auch Elly hat Morsen gelernt – war sie es doch, die die Telegramme zustellte! Da gab es als Entfernung 1. Zone zu 10 Pfennig, 2. Zone zu 15 Pfennig, die 3. Zone schon ganze 20 Pfennig. Manchesmal, erinnert sich Frau Bergmann, wurden das im Monat doch so 30-40 Mark.  

Wie gern trug sie Telegramme zum Beispiel zur Rennbahn hinter dem Gehölz beim Jäger. Dort wohnte bei den Pferdestallungen der Trainer Utting – und so ein Pferdetrainer an der eleganten Hamburger Rennbahn wird sicherlich nicht wenige Telegramme erhalten haben. Frau Bergmann zeigte mir ein liebliches altes Photo: ein schmaler Weg durch dichtes Gras zwischen hohen Buchen, wie aus ´Rotkäppchen`, eben der Weg durchs Wäldchen Borsteler Jäger. Sie träumt noch immer von jenen herrlichen Buchen, besonders nach Gewitter, wenn die Tropfen an den glatten Stämmen schimmerten.Elly liebte vor allem die schönen Pfingsttage, wenn die Pferderennen stattfanden. Von den Tribünen hatte man einen  prächtigen Aus-blick über die Bahn. Die Leute ´von der Post`erhielten vom Rennbüro jedesmal zwei Freikarten. Eines Tages saß sogar der deutsche Kaiser samt Familie auf der 1. Tribüne, Elly vergißt nie jenen herrlichen  Tag … all die Eleganz, die schmissige Musik und die wundervollen Pferde unter leuchtender Sonne. 

Sie erinnert sich auch an den Sommer 1906, als ein großer gelber Postwagen die Chaussee herauffuhr und große und kleine Kisten in den Garten der Postagentur getragen wurden. Darin verschiedene Vögel und Äffchen für den Empfänger, die Tierhandlung Firma Fockelmann auf dem Gelände der jetzigen Firma Strüver. Der gute Vater Möller gab diesen Tieren frisches Wasser – sicher nicht nur einmal. Welch`gute Tat, wie sich Tochter Elly erinnert, die nach einigen Wochen vom Tierschutzverein durch einen Spazierstock mit silberner Krücke belohnt wurde. 

Viel Arbeit gab`s auch zum Beispiel vor Weihnachten, wenn der Verlag Gutenberg aus der Violastraße (heute Köppenstraße) und der Verlag der Dichtergedächtnisstiftung aus der Woltersstraße sogar mit Schubkarren an-rückten.   

Als die Schwester infolge ihrer Heirat 1912 weder den Schalterdienst noch die Bedienung des Morseapparates mehr versehen konnte, wurde die Agentur aufgegeben. Vater Möller betätigte sich zusammen mit seinem Sohn als Makler für Groß Borsteler und andere Grundstücke und ´muß dabei nicht schlecht verdient haben`. Er war übrigens, zusammen mit dem Dichter Gustav Falke, Geschworener am Hamburger Gericht. Tochter Elly mußte dann Frau Falke auf der Brückwiesenstraße immer Bescheid sagen gehen, wenn die Sitzung mal länger dauerte als vorgesehen. Dafür durfte sie dann auch mal Johannisbeeren pflücken im schönen Falke-Garten hinten. An Frau Falke erinnert sie sich als an eine sehr vornehme Dame. 

Der 1. Weltkrieg lebte noch in Ellys Erinnerungen: Da rief“s auf der Borsteler Chaussee: Soldaten kommen vom Ausmarsch zurück, stellt bitte zu trinken vor die Türen! Der Vater eilte zur Mutter in die Küche: “Liese, kannst du schnell Pfannkuchen backen, ich sorge fürs Trinken”. Elly wurde angewiesen, die großen Pfannkuchen zu halbieren, mit Zucker zu bestreuen und das untere Ende in Pergamentpapier zu wickeln, während der Vater einen Tisch vor`s Grundstück stellte. Und schon erschien der erste Trupp. “Mensch, hier gifft dat Pannkoken!” Der Garten der Postagentur war im Nu voller ´Gäste`, die ihre Müdigkeit schnell vergessen hatten. Einem bedauernwerten Fußkranken, den er in die Küche gelotst hatte, schnitt Vater Möller einfach hinten in die Stiefel einen langen Schnitt und Mutter Elise wusch und pflegte die dampfenden Füße. Zum Schluß gab der Vater dem Ärmsten – die Kameraden waren längst abgerückt – noch einen sicher schön amtlich klingenden Brief mit in die Kaserne am Papendamm. 

Die Groß Borsteler Erinnerungen der Elly, geb. Möller, endeten dann durch die Heirat mit Ludwig Bergmann, einem Obersteuerinspektor, mit dem sie auf die Gneisenaustraße zog. Ihre Tochter Erna – sie lebt mit der Mutter zusammen in der Straße Im Winkel und ist Frau Bergmanns ganze Freude und Stütze – blieb das einzige Kind dieser Ehe. Erna hat Ellys Begabung geerbt und hat ´immer in der Textilbranche gearbeitet`.