Häuser, die Geschichten erzählen
Menschen und Tiere unter einem Dach

Einige alte Bauernhäuser in Groß Borstel zeugen noch von der bäuerlichen Vergangenheit des Ortes und manche haben sogar noch ein Reetdach. Hinter der Kreuzung zur Papenreye stehen am Ende der Borsteler Chaussee gleich mehrere alte Häuser. Besonders prächtig ist das Haus Nr. 294, ein Reetdachhaus, das früher einmal der Hof der Familie Peter Schröder gewesen war. Gegenüber befand sich bis vor kurzem ein kleineres reetgedecktes Haus, 1835 erbaut, mit der Adresse Borsteler Chaussee 285. Hier zog 1975 die Familie Peters ein. Nachdem sie 55 Jahre lang in dem alten Haus gewohnt hatte, verkaufte sie das Grundstück und zog weg. Der neue Besitzer ließ das alte Haus wegen Baufälligkeit abreißen. Das Grundstück ist nun leer. Näher am Ortskern steht der 1798 erbaute, ebenfalls reetgedeckte Hof der einstigen Gärtnerei Pann, an der Borsteler Chaussee 159. 1920 war der Meteorologe und Grönlandforscher Johannes Georgi hier eingezogen und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1972 in dem alten Haus. Auf der anderen Seite der Borsteler Chaussee, an der Ecke zum Moorweg, befindet sich ein weiteres Reetdachhaus, mit der Adresse Moorweg 1.  Dieses Haus befand sich bis 2004 im Besitz der Familie Behrens und ihrer Nachfahren.

Das Haus am Moorweg 1 ist ein typisches „Niederdeutsches Hallenhaus“. Vorläufer solcher Eindachhäuser gab es bereits in der Jungsteinzeit. Als Baumaterial diente ursprünglich getrockneter Lehm und Holz, später dann auch Ziegelsteine. Die Produktion dieser aus Lehm oder Ton gebrannten künstlichen Steine war schon in der Antike bekannt. Ihre industrielle Produktion begann aber erst 1855. Das Besondere an den Hallenhäusern war, dass hier Menschen und Tiere unter einem Dach lebten. In der Regel war eine Seite des Hauses dem Vieh vorbehalten. Auf der anderen Seite hatten die Menschen ihre Schlafkammern, die Bauern mit ihren Familien, aber auch Mägde und Knechte.

Dazwischen befand sich als Aufenthalts- oder Gemeinschaftsraum eine große Diele, ursprünglich mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte. Diese Art eines Wohnstallhauses war seit dem 8. Jahrhundert überall in Nordeuropa verbreitet. Das Vieh wurde vermutlich auch deshalb im Wohnhaus gehalten, weil es im Winter eine zusätzliche Wärmequelle bildete. Außerdem konnten die Bauern das Vieh versorgen, ohne das Haus verlassen zu müssen.

Zur Bedeckung des Daches wurde seit Urzeiten Schilf, auch Reet genannt, verwendet. Das aus mehreren Lagen Schilf bestehende Reetdach sorgt für eine gute Wärmeisolierung, hält im Sommer die Hitze aus dem Haus und im Winter die Wärme im Haus. Außerdem war es leicht zu beschaffen. Wegen der recht hohen Brandgefahr wurden Reetdächer in den wachsenden, eng bebauten Städten nach und nach verboten und durch Hartdächer ersetzt. In Dörfern standen die Häuser weiter auseinander und die Brandgefahr war nicht so groß.

Das Eckgrundstück am Übergang des Moorweges zur Borsteler Chaussee wurde im Jahr 1799 vom Kloster St. Johannis, seit 1325 infolge einer Schenkung Besitzer von Groß Borstel, an den Bauern Johann Behrens übertragen, der auch die Erlaubnis erhielt, hier ein Haus zu bauen. Die Überlassungsurkunde vom 29. Juni 1799 ist erhalten. Das Haus wurde noch im gleichen Jahr gebaut. Johann Behrens besaß 44 Morgen Land auf Groß Borsteler Landgebiet und war Milchbauer, lebte also vor allem mit Kühen unter einem Dach.

Über Generationen führte die Familie Behrens den Milchhof am Moorweg 1 und versorgte nicht nur die Bewohner von Groß Borstel mit Milch. 1919 übernahm Carl Robert Behrens die Milchwirtschaft von seinem Vater Carl Heinrich Behrens. Er war der letzte Milchbauer und führte das Geschäft noch bis 1938.

Das Tagwerk war sicher anstrengend, bot aber auch Abwechslungen, manchmal ungewohnte. So sahen die Bewohner vom Moorweg 1, Menschen und Kühe, eines Tages einen fremdartigen Einwohner die Borsteler Chaussee entlang rennen – aus dem Gehege des Tierhändlers Heinrich Fockelmann im Petersenpark war in den 1920er-Jahren einmal ein Elefant ausgerissen, wurde aber bald wieder eingefangen.

Robert Behrens heiratet 1908 Martha Kähler, deren Familie hinter der Kirche St. Michaelis, am Teilfeld, Ecke Herrengraben, die Gastwirtschaft „zur Altdeutschen Schänke“ besaß. Das Paar hatte zwei Töchter, Else, verheiratete Koppen, und Maria, die den Polizisten Herbert Matthies heiratete. Maria Matthies leitete von 1948 bis 1960 die Bücherhalle von Groß Borstel, die bis zur Sanierung des Stavenhagenhauses im Haus Marienruh im Lokstedter Damm untergebracht war. Zum Abschied erhielt sie vom damaligen Vorsitzenden des Groß Borsteler Kommunalvereins Dr. Herbert Wanser, Zahnarzt an der Borsteler Chaussee, ein Bild ihres Hauses im Moorweg 1, das Heinrich Rode (1905-1983) gemalt hatte. Rode war ein Freund der Familie und häufiger Gast im Reitstall Thomforde nebenan. Auf der anderen Seite, an der Ecke zur Borsteler Chaussee, hatte die Bäckerei Wedemeyer ihr Domizil. Dreimal entkam das Haus im Moorweg 1 nur knapp seiner Vernichtung durch Feuer. Jedes Mal war Brandstiftung die Ursache. 1963 steckte der Geselle der Bäckerei Wedemeyer das Reetdach an. Er war bei der Freiwilligen Feuerwehr aktiv und verschaffte sich Arbeit. 1976 zündete ein psychisch kranker vormaliger Straftäter das Reetdach an. 1980 brannte das Dach ein weiteres Mal, – der Täter bleib dieses Mal unbekannt. In allen drei Fällen konnte das Feuer rechtzeitig gelöscht werden.

Einer der letzten Bewohner und Mitbesitzer des alten Hauses war Jochen Matthies, Sohn von Maria und Herbert Matthies. Er wurde 1945 geboren, wuchs im Moorweg 1 auf und besuchte die Volksschule Marienruh im Lokstedter Damm. Nach der Schulzeit lernte er als Koch. Sein Schwiegervater betätigte sich im Briefmarkenhandel und über diese Verbindung wurde auch Jochen Matthies Briefmarkenhändler. Von 1971 bis 2018 führte er ein kleines, aber feines Geschäft in den Hamburger Colonaden mit Briefmarken und Münzen.

2004 verkauften Jochen Matthies und seine zwei Kusinen als Mitbesitzerinnen das Haus am Moorweg 1 an einen Bauunternehmer, der das unter Denkmalschutz stehende Gebäude sanieren ließ. Das Haus wurde in zwei Wohnungen aufgeteilt. Kühe wohnen dort schon lange nicht mehr.

Text: André Schulz