HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN

DAS KINDERHEIM SONNENSCHEIN

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Groß Borstel drei Kinder- oder Mütterheime. Im Lokstedter Damm befand sich das 1898 vom Geschäftsmann Eduard Lippert gegründete Kinderheim Marienruh, heute die Schule Lokstedter Damm für Kinder mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung (s. Borsteler Bote 6/2020). An der Borsteler Chaussee 299 entstand ein Kinder- und Mütterheim, das seit 1927 vom Bund für Mutterschutz Hamburg unterhalten wurde. Das Haus wurde zuletzt zur Unterbringung für Flüchtlinge genutzt und steht seit ein paar Jahren leer (s. Borsteler Bote 11/2020). Schließlich gab es auch noch ein Kinderheim auf dem Gelände des einstigen Brödermannschen Garten am heutigen Brödermannsweg, das Kinderheim Sonnenschein. Heute befindet sich auf dem Grundstück die Kita der Elbkinder gGmbH (s. Borsteler Bote 10/2020).
In der Ausgabe vom 29. Mai 1926 veröffentlichte der Hamburger Anzeiger ein Foto, das eine Gruppe von Kindern vor dem Haus Sonnenschein zeigt, zusammen mit einigen Erzieherinnen, von denen zwei aus Afrika stammten. Wie kamen sie nach Groß Borstel? Die Lebensgeschichte einer der beiden afrikanischen Erzieherinnen ist kürzlich zumindest in Teilen bekannt geworden, durch einen ganz besonderen Zufall.
Die Geschichte beginnt im Dezember 1900 in einem Varieté-Theater in Elberfeld, heute ein Ortsteil von Wuppertal. Hier trat Nayo William aus Togo mit fast 40 Landsleuten in einer der Völkerschauen auf, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern damals modern waren. Togo war zu dieser Zeit eine deutsche Kolonie.
Nayo Williams war zwar evangelisch getauft, reiste aber mit vier Ehefrauen. Am 12. Dezember kam in dem Varieté ein Mädchen zur Welt, Regina Philomena William. Da das Tourneeleben für ein Baby nicht geeignet war, gab Nayo William sein Kind mit der Hilfe der evangelischen Gemeinde in Wuppertal zur Pflege. Das Kind wuchs bei einem deutschen Ehepaar auf und nannte sich später Therese William-Hufnagel.
Ursprünglich war nur eine Pflege für einige Jahre geplant, dann wollte der Vater Nayo William seine Tochter wieder abholen und mit ihr und seiner Familie nach Togo zurückkehren. Doch aus dem Plan wurde nichts. 1913 nahm Nayo Willliam mit seiner Truppe eine Einladung nach Russland an, wo sich nach Beginn des Ersten Weltkriegs die Spur der Togoer verliert.
Nach der Schulzeit begann Therese William- Hufnagel eine Ausbildung im diakonischen Tabea-Haus in Kaiserswerth, das später zu Düsseldorf eingemeindet wurde. Das Haus war 1836 von Theodor Fliedner und seiner Frau Friederike als erste Diakonissenanstalt der Welt gegründet worden, um alte und kranke Menschen zu versorgen und zu pflegen und Kinder und Jugendliche pädagogisch zu betreuen. Die Arbeit wurde von unverheirateten Frauen geleistet, die hier in einer christlichen Glaubensgemeinschaft zusammenlebten. Die Tabea-Häuser gibt es auch heute noch.
Auch in Hamburg gab es ein Tabea-Mutterhaus, das Haus Alten Eichen in Stellingen. Dorthin wurde Therese William-Hufnagel 1923 versetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebten die Menschen in Deutschland und in Hamburg schwere Zeiten. Die Hyperinflation entwertete das Geld am Ende sogar stündlich. Die Versorgungslage war schlecht und die politische Lage instabil. Hamburg war zudem voll mit Kindern, die ihre Väter im Krieg verloren hatten oder die aus den Gebieten im Osten des Reiches geflüchtet waren. Die Diakonissinnen des Tabea-Hauses übertrugen Therese William-Hufnagel die Leitung eines neuen Hauses, das in Groß Borstel am Brödermannsweg in einem großen Park eingerichtet worden war.


Das einstige Brödermannsche Grundstück gehörte seit 1916 der Familie Wröndel. Hermann Wröndel (1890-1967) war Inhaber einer Privatbank. In der Weltwirtschaftskrise geriet Wröndel mit seiner Bank jedoch in Schwierigkeiten. Er verkaufte das Grundstück später an die Stadt Hamburg, die in Groß Borstel Ende der 1920er-Jahre eine Akademische Stadt plante. Die Villa Wröndel inmitten des Brödermannschen Parks wurde vom Tabea- Haus angemietet, wann genau, ist nicht ganz klar. Im Mai 1926, als das Foto im Hamburger Anzeiger veröffentlicht wurde, war das Kinderheim schon in Betrieb. Die Familie Wröndel soll Groß Borstel aber erst 1931 verlassen haben. Auf dem Grundstück befanden sich zwei Häuser, die vielleicht nacheinander angemietet wurden.
Therese William-Hufnagel übernahm hier einige Jahre lang die kommissarische Leitung des Kinderheims. Nachdem die Nationalsozialisten im Januar 1933 an die Macht gekommen waren, wurden auch die Sozialdienste gleichgeschaltet. Therese William-Hufnagel verließ noch im Jahr 1933 Deutschland und ging in die Heimat ihrer Eltern nach Togo, die sie zuvor noch nie gesehen hatte und die inzwischen eine französische Kolonie geworden war. Als Ehefrau des Togoer Diplomaten Jonathan Camara kehrte sie zu Beginn der 1960er-Jahre noch einmal nach Deutschland zurück und lebte eine Zeitlang in Bonn-Bad Godesberg.
Über die Lebensgeschichte von Therese William-Hufnagel veröffentlichte Hermann Schulz den Roman „Therese – das Mädchen, das mit Krokodilen spielte“. Im Oktober 2021 hat der Autor sein Buch in Groß Borstel mit einer Lesung vorgestellt. Der Borsteler Bote hat darüber berichtet.
Nach dem Krieg wurde in der Villa Wröndel noch bis 1975 ein Kinderheim geführt. Das klassizistische Gebäude wurde jedoch nicht gepflegt und befand sich in schlechtem Zustand. 1975 schloss die Stadt das Kinderheim aus „wirtschaftlichen Gründen“ – gegen den Protest der Groß Borsteler. Die Villa stand noch bis 1978 ungenutzt auf dem Grundstück und verfiel. Dann wurde das inzwischen baufällige Haus abgerissen.
Text: André Schulz