Liebe Borstelerinnen, liebe Borsteler,

am 29. August bin ich mit Mann, Hund und Auto gen Süden aufgebrochen. Für fast vier Wochen. Der erste lange, richtige Urlaub, seit Covid uns heimgesucht hat! Endlich!

Wir sitzen auf unserer ersten Urlaubsetappe beim Frühstück im Hotel in Bamberg, ich rühre Milch in meinen Tee, da sagt mein Mann: „Gestern ist in Hamburg schon wieder einen Radfahrer totgefahren worden, obwohl er grün hatte. Ein Lastwagen hat ihn beim Rechtsabbiegen nicht gesehen. Er war erst 15, und seine Freunde und sein Bruder mussten es mitansehen“.

Mir wurde schlagartig übel, und ich erstarrte auf meinem Platz. Welch ein Horror! Wie ein Flash Back überfluteten mich alle Gefühle und Körperempfindungen aus dem letzten Jahr. Anfang Juli vor einem Jahr wurde auf der Poppenbüttler Landstrasse ein 19-jähriges Mädchen getötet. Sie fuhr mit ihrem Fahrrad auf dem Radweg geradeaus, der LKW bog rechts ab und erfasste sie. Sie hieß Fine, sie war eine lebendige, aufgeschlossene, lebenshungrige junge Frau, die nach ihrem Abitur jobbte, um mit dem Freund eine große Reise zu machen. Sie ging seit der ersten Klasse mit meiner Enkelin Lilly in die Schule und war seitdem auch mit ihren drei Schwestern eng befreundet.

Für Fines Eltern und ihren Bruder wird das Leben nie wieder wie vorher werden. Nie wieder heil. Für 24 andere Familien in Hamburg ebenfalls nicht. Für mich klingt es schrecklich, wenn in Verlautbarungen der Polizei, abgedruckt im Hamburger Abendblatt oder anderen Medien, positiv festgestellt wird, dass die Zahl der Verkehrstoten von 28 in 2021 auf 24 im Vorjahr gesunken ist.

Es gab fast 30.000 Unfälle in Hamburg von Januar bis Juni 2022, davon 1477 mit Radfahrern und Radfahrerinnen. Ich finde die immer gleichen Formulierungen von Polizei und Medien schwer erträglich: „Der Fahrer konnte nicht mehr bremsen.” „Der Fahrer hatte (k)einen Abbiegeassistenten.” „Der Fahrer hat sie/ihn nicht sehen können.” Ja warum denn nicht? Was wäre passiert, wenn alle LKWs – wie beim Abbiegen vorgeschrieben – mit maximal 7 km/h durch die Kurve fahren? Wenn der gesamte Verkehr in Hamburg auf 30 km/h entschleunigt wäre, wie vom Deutschen Städtetag gefordert?

Warum ist das in Hamburg so undenkbar? Warum wird man bei diesen Forderungen von unseren Entscheidern als naiv angesehen? Warum wird behauptet, die Wirtschaft oder wahlweise der HVV brechen zusammen, würde Tempo 30 in Hamburg verwirklicht werden?  Warum wird in der Berliner Verkehrspolitik weiterhin ein armselig überkommener Freiheitsbegriff aus den 70ern hochgehalten: „Freie Fahrt für freie Bürger”? Was muss noch alles passieren, damit Menschenleben, Gesundheit, Kindersicherheit, Familienglück, Respekt vor älteren Menschen, Priorität haben vor dem Paradigma: Der Verkehr muss fließen?!

Fließt er woanders nicht? Steht er weltweit still, ganz Europa im Stau, weil dort nicht dem Recht des PS-Stärkeren gehuldigt wird? „Wer am schnellsten fährt, ist der King!“ Die deutsche Verkehrspolitik prägt und zementiert dieses menschenverachtende Ideal seit Jahrzehnten. Es erzieht die Menschen zum mangelnden Respekt und zu fehlender Rücksichtsnahme auf schwächere Verkehrsteilnehmer. Da schaut man gar nicht hin, man „muss“ ja schnell weiter. Wichtig, wichtig!

Warum echauffiere ich mich so? Weil ich kaum noch Rad fahre, außer in Groß Borsteler Wohnstraßen. Weil ich Sorge habe, dass irgendwann das erste Kind beim Überqueren des Tarpenbeker Wanderwegs (mittlerweile ein Radschnellweg) durch einen eiligen Radfahrer zu Schaden kommt. Weil mich die latente Aggressivität im Straßenverkehr belastet. Weil es anders ginge.

Hier in Italien, wo ich noch bin, während ich schreibe, wird durchaus flott gefahren. Aber man achtet sehr intensiv aufeinander. Es wird nicht rechthaberisch agiert, ich sehe keine Aggressionen.

Für Groß Borstel haben wir mit dem Rise-Prozess die einmalige Chance, ein Verkehrsmodell für unseren Stadtteil zu gestalten, das ein anderes Ideal zum Vorbild hat: Der Verkehr soll uns Menschen dienen, aber er soll den Menschen nicht dominieren. Wir wollen einen Stadtteil, in dem alle Menschen – Große, Kleine, Alte, Eingeschränkte – sich wohl und sicher fühlen können, alle ihren Platz haben und sich mit Groß Borstel als ihrem Lebensmittelpunkt identifizieren können. Darum:

  • Durchgangsverkehr reduzieren und Wohnstraßen schützen
  • Tempo 30 auf der Borsteler Chaussee, im Spreenende und Klotzenmoor
  • Aufenthaltsqualität verbessern

Um diese Chancen zu befördern, haben wir den Staatsrat Martin Bill aus der Behörde für Verkehr und Mobilität eingeladen. Am Donnerstag, 5. Oktober 2023 um 19.30 Uhr im Stavenhagenhaus können wir mit ihm über unsere Vorstellungen diskutieren und ihn dazu auffordern, uns bei der Umsetzung zu unterstützen: Modellstadtteil Groß Borstel. Kommen Sie am 5. Oktober ins Stavenhagenhaus! Das ist wichtig!

Herzlich, Ihre Ulrike Zeising