HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN

Das ehemalige Mütterheim an der Borsteler Chaussee

Am 9. November 1938 eröffneten die Nationalsozialisten im Deutschen Reich mit einem landesweiten Pogrom die systematische Verfolgung der jüdischen Bürger, aber nicht nur dieser. In den folgenden Jahren wurden Hunderttausende Menschen in Deutschland aus den verschiedensten Gründen verschleppt, verfolgt und ermordet, darunter Kinder und Kranke, die nicht den nationalsozialistischen Vorstellungen der Rassenhygiene entsprachen. 1992 begann der Künstler Gunter Demnig, seine Stolpersteine anzufertigen, kleine Gedenktafeln, die vor den einstigen Wohnungen der Opfer eingelassen werden und mit Namen und Lebensdaten an die Opfer erinnern.

Bislang wurden 75.000 Steine in 24 Ländern verlegt. Ingo Wille und Peter Hess leiten die Initiative „Stolpersteine in Hamburg“. 5874 Stolpersteine gibt es schon in Hamburg, bisher drei in Groß Borstel. Am 17. Oktober 2020 wurde ein weiterer Stolperstein vor dem ehemaligen Mütterheim an der Borsteler Chaussee 299 gesetzt.

Dieser Stein erinnert an Werner Schuldt, der 1943 in Eichberg starb, ein siebenjähriges Kind, Opfer des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms. Werner Schuldt lebte im Mütter-und Kinderheim an der Borsteler Chaussee 299, bevor er dort abgeholt und über die Alsterdorfer Anstalten in die „Kinderfachabteilung“ Eichberg verlegt wurde.

Dort wurde der Junge als eines von zahllosen Opfern ermordet.

Das einstige Mütter-und Kinderheim an der Borsteler Chaussee 299 besteht aus zwei großzügigen Stockwerken, ein stattliches Haus mit einem Grundriss von etwa 10 mal 10 Metern. Der Eingang befindet sich im Hochparterre, eingebettet in ein turmförmiges Portal. Die Wände des Hauses wurden aus rotem Backstein und gelbem Greppiner Klinker gebaut. Hohe zwei- und dreiteilige Fenster sorgen für Licht im Inneren des Hauses. Zum Haldenstieg hin wurde das Haus später einmal um etwa zwei Meter erweitert.

Bei diesem Anbau hatte man sich bemüht, die ursprünglichen architektonischen Elemente nachzuahmen, doch das gelang nur ansatzweise. Das Haus ist heute verlassen.

Das Mütterheim soll einem Erweiterungsbau weichen

Der Zugang zum Grundstück ist mit einem Zaun abgesperrt, das Grundstück selber verwildert, und die beiden Eingänge, der Haupteingang zur Borsteler Chaussee und einen Nebeneingang im rückwärtigen Teil des Hauses, sind mit Holzverschlägen verrammelt. Über die frühe Geschichte des Gebäudes ließ sich nicht viel in Erfahrung bringen. Im Bildarchiv des Kommunalvereins findet sich ein Foto des Hauses mit der Jahresangabe „ca. 1910“.

Das Haus stand damals in freier Landschaft, von Wiesen und Gärten umgeben. Auf einer Wiese vor dem Haus sieht man Pferde grasen. 1927 erwarb der Verein „Mütterheim des Bundes für Mutterschutz Hamburg“ das Grundstück, vermutlich schon mit dem Haus darauf, und richtete entweder das Mütterheim selber ein oder übernahm als neuer Träger eine schon bestehende Einrichtung. Die wuchtige Altenheimanlage von Fritz Schumacher nebenan wurde zwei Jahre später gebaut.

Mitte des 19. Jahrhunderts hatte in Deutschland die Industrialisierung eingesetzt. Die Menschen strömten vom Land in die Städte, die rasend schnell an Einwohnern zunahmen. Doch für viele der Neuankömmlinge gab es weder Arbeit noch Unterkunft. Obdachlosigkeit und soziales Elend, Hunger und Krankheit waren die Folge.

Liebevolle Kinderbetreuung vor der Nazi-Zeit

Junge Frauen, die zum Beispiel Stellen als Haushaltshilfen angenommen hatten, wurden in ihren Abhängigkeitsverhältnissen nicht selten ungewollt schwanger, was für die betroffenen Frauen sofortige Entlassung und sozialer Abstieg bedeutete. Armutsprostitution war weit verbreitet. Die Säuglingssterblichkeit sank zwar im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, lag um 1900 aber immer noch bei 20%.

Um die Situation für alleinstehende Mütter und „gefallene Mädchen“ zu verbessern, hatten sich bürgerliche Wohlfahrtsvereine gegründet. Dazu gehörte der auch der 1905 gegründete Bund für Mutterschutz. Die Philosophin und Frauenrechtlerin Dr. Helene Stöcker wurde eine der führenden Figuren.

„Zweck des Bundes ist es, die Stellung der Frau als Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern, insbesondere unverheiratete Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und herrschende Vorurteile gegen sie zu beseitigen …“, hieß es nun in der Satzung.

Helene Stöcker und der Bund für Mutterschutz setzten sich auch für das Recht auf Abtreibung ein. Ab 1924 nannte sich der Verein „Deutscher Bund für Mutterschutz und Sexualreform“. In vielen Städten, auch in Hamburg, hatten sich Ortsgruppen gebildet und richteten Beratungsstellen und Heime für Mütter und Kinder ein.

Dr. Hulda Caroline Emilie Helene Stöcker war Aufklärerin
und Sozialreformerin. Sie starb nach ihrer Flucht vor dem
Naziregime 1943 verarmt in New York.

Das Haus an der Borsteler Chaussee ging 1932 vom Bund für Mutterschutz Hamburg in den Besitz des „Hamburger Mütterheim e.V.“ über. Schon im Ausgang des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge des „Sozialdarwinismus“ die Ideen der „Rassenhygiene“ populär.

Den gedachten Wettbewerb der menschlichen Rassen konnte dieser Vorstellung zufolge nur das Volk gewinnen, dessen „Volkskörper“ am gesündesten war. Krankes und „degeneriertes“ Erbgut sollte ausgemerzt werden.
Die Nationalsozialisten setzten diese Ideen nach ihrer Machtübernahme in die Tat um. Am 18. April 1932 gründeten die Nationalso zialisten den Verein Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), der nach der Machtübernahme Aufgaben der Wohlfahrtspflege übernahm.

Spendenaufruf der N.S.-Volkswohlfahrt:
„Kriegs-Winter-Hilfs-Werk“, 1943

Andere Wohlfahrtsverbände wurden verboten oder zurückgedrängt. Die NSV übernahm auch Kindergärten und Mütterheime. Im Oktober 1939 hatte Adolf Hitler eine Anordnung zur Ausrottung „lebensunwerten Lebens“ unterzeichnet. Bei der Durchführung des Euthanasie-Programms in Hamburg spielten unter anderem die Alsterdorfer Anstalten als Sammelstelle eine Rolle, die recht gut dokumentiert ist. Geistig und körperlich behinderte Kinder deportierte man in die so genannten „Kinderfachabteilungen“ und ermordete sie dort mit Medikamenten, durch Nahrungsentzug oder infolge von medizinischen Tests.
Verantwortlich für die Durchführung des Programms in Hamburg war als Präsident der Hamburger Gesundheits- und Fürsorgebehörde der Arzt Friedrich Ofterdinger.

Er wohnte in Groß Borstel im Holunderweg und war auch der NSDAP-Ortsgruppenleiter. Bei Kriegsende wurde er festgenommen und starb 1946 in einem britischen Internierungslager an einem Hungerödem.

Nach dem Krieg übernahm die Stadt Hamburg das Haus an der Borsteler Chaussee und nutzte es lange zur öffentlichen Unterbringung. In späteren Jahren findet man auch den Christlichen Jugendsozialdienst Hamburg e.V. mit einem Kindertagesheim an dieser Adresse. Die genaue Nutzung des Hauses über die Jahrzehnte ist jedoch nicht dokumentiert.

Spätestens 2003 bis 2011 stand das Haus allerdings leer. Es gab Pläne, auf dem Grundstück Wohnungen zu bauen, doch diese wurden nicht realisiert. Als mit Beginn der 2010er Jahre immer mehr Zuwanderer nach Deutschland kamen, beschloss die Bezirksversammlung Nord, das Gebäude vorübergehend als Unterbringungsort für Zuwanderer und Flüchtlinge und im Rahmen des Winternotprogramms auch für Wohnungslose zu nutzen.

94 Bewohner aus 12 Nationen lebten zeitweise im Haus und in Containern auf dem Grundstück. Während der großen Zuwanderungswelle 2015 brachte man weitere 800 Zuwanderer vorübergehend in der Nähe in den Tennishallen in der Papenreye unter. Im Dezember 2018 wurden dann die neuen Unterkünfte für Zuwanderer auf dem Gelände der früheren Strüver-Werke zwischen Stavenhagenstraße und Papenreye fertiggestellt und die Bewohner aus der Borsteler Chaussee sowie 300 weitere Zuwanderer hier einquartiert.

Das Schumacher-Altenheim an der Borsteler Chaussee 301 und das Haus Nr. 299 werden von der Hamburger Sozialbehörde Fördern und Wohnen, Anstalt des öffentlichen Rechts, verwaltet. Sie arbeitet eng mit der Schwesterbehörde Pflegen und Wohnen zusammen. Jüngst wurden neue Pläne für das Haus und das Grundstück 299 vorgestellt.

Das alte Haus soll abgerissen und ein Neubau errichtet werden, mit 120 bis 140 Plätzen für stationäre Pflege und enger Anbindung an das Schumacherhaus nebenan. Auch einige Praxen für Ärzte und Physiotherapeuten sowie Tagespflegeplätze könnten hier entstehen.


André Schulz