Häuser die Geschichten erzählen

Die Akademische Stadt

Der Anblick Groß Borstels, so wie wir es heute kennen, wird durch die vielen Entwicklungsstufen geprägt, die der Ort in den letzten 150 Jahren durchlaufen hat. Ein paar alte Höfe aus der Zeit, als Groß Borstel ein Bauerndorf war, säumen noch die Borsteler Chaussee.

Mit der Pferderennbahn hinter dem Borsteler Jäger wurde Groß Borstel zu einem beliebten Ausflugsziel, mit vielen Gaststätten. Wohlhabende Hamburger bauten sich hier Anfang des 20. Jahrhunderts nun ihre Vorortsvillen, von denen es noch einige gibt. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich zwischen Borsteler Chaussee und Tarpenbek auch Gewerbebetriebe und Fabriken an. Es gab eine Nickelfabrik, später eine Lederfabrik und eine Werkstätte der Vereinigten Deutschen Metallwerke – heute befinden sich hier REWE und der Alphapark. Weiter nördlich waren die Strüver Werke – das Gelände wird derzeit von verschiedenen Betrieben genutzt.

In den 1960er und 1970er Jahren wurde das Groß Borsteler Gelände mit verschiedenen Neubauten weiter erschlossen. Der Flughafen mit den anliegenden Firmen wuchs in alle Richtungen. Alles zusammen ergibt das Bild, das wir heute von Groß Borstel gewohnt sind. Auch das Eppendorfer Moor gehört dazu.

Die Geschichte Groß Borstels hätte aber auch ganz anders verlaufen können. Wäre es nämlich nach dem Willen der Hamburger Stadtplaner in den 1920er Jahren gegangen, dann hätte der Ort heute ein völlig anderes Gesicht.

Das Eppendorfer Moor wäre heute ein Botanischer Garten. Daran anschließend gäbe es in Richtung Alsterkrug Hotel eine Reihe von Sportstätten. Inmitten der Anlage würde sich ein Bahnhof der Hochbahn befinden. Auf dem Gelände zwischen dem Klotzenmoor bis hinauf zum Licentiatenberg stünden zahlreiche große repräsentative Klinkerbauten. In Groß Borstel wäre heute Hamburgs „Akademische Stadt“.

Schon Ende des 19. Jahrhunderts gab es unter wohlhabenden Hamburger Bürgern Initiativen zur Gründung einer Staatlichen Universität in der Hansestadt. Nach einigem Widerstand in der Bürgerschaft konnten sich schließlich die Befürworter durchsetzen.

Der Kaufmann und Reeder Edmund Siemers stiftete schon 1911 ein „Vorlesungsgebäude für das allgemeine Vorlesungswesen“. Das Haus am Dammtorbahnhof wurde später zum Hauptgebäude der Universität Hamburg und ist es heute noch. Die Gründung der Lehranstalt erfolgte aber erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Am 10. Mai 1919 wurde die Hamburger Universität feierlich eröffnet. Im folgenden Sommersemester nahmen schon knapp 1800 Studenten in den vier Fakultäten Medizin, Naturwissenschaften, Philosophie sowie Rechts- und Staatswissenschaften das Studium auf.

Fritz Schumacher, Architekt und Oberbaudirektor in Hamburg
Die Feuerwache Alsterkrugchaussee von 1913/14
Schule in Hamburg Dulsberg von 1928
Die Davidwache von 1913/14

Die Universität fand rasch Anerkennung und zog renommierte Dozenten an, darunter den Naturwissenschaftler und späteren Nobelpreisträger Otto Stern, den Juristen Albrecht Mendelssohn Bartholdy, den Kunsthistoriker Erwin Panofsky, den Psychologen William Stern und den Philosophen Ernst Cassirer.

Es war schnell klar, dass die Universität im Zentrum Hamburgs früher oder später an ihre Grenzen stoßen würde und hier nicht expandieren konnte. 1909 war Fritz Schumacher zum Baudirektor und Leiter des Hochbauwesens in Hamburg berufen worden.

Fast alle Glasplattennegative von Architekturmodellfotos sind im Krieg verloren gegangen. Das Bild des Modells der Wohnanlage für Senioren in Groß Borstel ist erhalten geblieben
Schumacher verstand es, auch bei großen Baukomplexen, wie der Jarrestadt in Barmbek, eine elegante Formensprache aus Klinkerstein zu schaffen.

Nach einer dreijährigen Tätigkeit in Köln kehrte er 1923 nach Hamburg zurück, wurde Oberbaudirektor und begann mit vielen neuen Bauvorhaben, in enger Zusammenarbeite mit seinem Altonaer Kollegen, dem Bausenator und Stadtbaurat Gustav Oelsner, das Bild des neuen Hamburgs zu prägen. Zu den Gebäuden, die während Schumachers Amtszeit entstanden, gehören das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (1912 – 14), einige Gebäude des Universitätsklinikums Eppendorf (1912 – 16 und 1926), die Markthalle (1913), die Davidwache (1913 – 14) und eine Reihe weiterer Polizeiwachen, das Holthusenbad (1913 – 14), das Museum für Hamburgische Geschichte (1913 – 22), das Landhaus Walter (1914 – 15), das Planetarium (1927 – 28), die Staatliche Kunstgewerbeschule im Lerchenfeld (1911 – 13), die Gelehrtenschule des Johanneums (1912 – 14) sowie zahlreiche weitere Schulbauten, eine Fülle von Brücken, die Jarrestadt in Winterhude (1930) und unzählige Bauten mehr. Auch in Groß Borstel und seiner Nachbarschaft findet man Beispiele von Schumachers Baukunst. Unter seiner Planung entstand das Altersheim in der Borsteler Chaussee 301 (1927 – 29), die Feuerwache an der Alsterkrugchaussee 288 (1913 – 14) und die Bedürfnisanstalt am Alsterdorfer Damm (1919), inzwischen ein Café.

Die Idee, die Innenstadt durch Dezentralisierung zu entlasten und die Universität in die Peripherie zu verlegen, hat Fritz Schumacher 1928 in der Denkschrift „Die bauliche Zukunft der Hamburgischen Universität“ niedergelegt:

„Hamburgs geographisch-politische Form hat in ganz besonders starkem Maße die Inanspruchnahme und damit die allmähliche Überlastung seines historischen Zentrums zur Folge gehabt. (…) Macht man sich klar, dass man in einigen Jahrzehnten vielleicht mit einer Verdoppelung der Stadt rechnen muss, so ist dieser Wunsch nach einer Dezentralisierung wohl begreiflich. (…) Eine „akademische Stadt“ kann auch außerhalb des Hamburger Zentrums liegen. (…). Es sei der Blick deshalb auf ein Gelände im Norden der Stadt gerichtet. Es ist das Gebiet, das am östlichen Rande von Groß Borstel nördlich an das Eppendorfer Moor anschließt, etwa bis in die Zone des Licentiatenberges und des „Borsteler Jäger“ reicht und westlich von der Trasse des projektierten Hochbahnarmes umfaßt wird, der von der Station Lattenkamp nach Groß Borstel abzweigen soll. Dies Gebiet ist gegenwärtig noch von Bauten unberührt, es gehört zum sehr wesentlichen Teil dem Staate.“

Schumachers Ausführungen zur Anbindung Groß Borstels an das Hochbahnnetz sind aus heutiger Sicht besonders interessant. Was ihm 1928 leicht umzusetzen schien, ist bald 100 Jahre später leider immer noch nicht gelungen: „Der neue Hochbahnarm braucht vorläufig nur für zwei Stationen ausgebaut zu werden, die beide für Groß Borstel ohnehin unentbehrlich sind: die Stationen ‚Eppendorfermoor‘ (Ecke Alsterkrugchaussee) und ‚Universität‘.“

Schumacher skizzierte seinen Plan und beschrieb den Charakter Groß Borstels so, wie er im Kern auch heute noch ist:

Ansichtsskizze des Geländes von Nord-Osten, mit Blick
über Alster und Alsterkrugchausee

„Es ist eine ruhige Insel, geeignet für die ungestörte Entwicklung einer Kolonie von Institutsbauten. Dies Gebiet ist eingebettet in Grünzüge. Die Disposition geht davon aus, wesentliche Teile des Eppendorfer Moores für den neuen Botanischen Garten nutzbar zu machen. (…) Der Restteil des Eppendorfer Moores könnte, wenn man will, zu einem wesentlichen Teil Sportzwecken dienen, diese lassen sich aber auch nördlich in der Gegend der Schießstände anlegen. Das ganze Gebiet ist in außergewöhnlich günstiger Weise mit angenehmen Erholungspunkten verbunden.

Animierte Karte Groß Borstels. Nach einigen Sekunden wird in die Karte von heute die akademische Stadt eingeblendet.

Im Norden berührt es den Borsteler Jäger, dahinter breitet sich das freie Gebiet der Schießstände, im Süden aber steht es mit dem Hauptpunkt der Alsterkanalisierung, der beckenartigen mittleren Erweiterung des Wasserlaufs in Beziehung, sodass auch mit dem Wassersport unmittelbare Verbindung vorhanden ist. (…) Groß-Borstel würde eine angenehme Wohnstadt der Studenten werden. (…) Kurz, alle Bedingungen sind da, um hier eine akademische Stadt entstehen zu lassen, die ähnlich wie viel bewunderte Gründungen in Amerika und England ihren eigenen Typus und einen besonderen, dem neuzeitlichen Leben der Jugend angepassten Charakter hat.“

Ein Orginalplan von Fritz Schumacher
Krematorium des Friedhofs Ohldorf in der zunehmend
sachlichen Architektursprache Fritz Schumachers 1933

Schumacher schwebte also eine moderne Universität, ein Campus nach anglo-amerikanischem Vorbild vor. In seinem Für und Wider listet er auch die Nachteile des Projekts auf. Ein wesentliches Gegenargument betraf die Kosten. Letztlich scheiterte das Projekt an diesem Punkt.

Nach dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 wurden bald auch das Deutsche Reich und die Handelsstadt Hamburg von der weltweiten Rezension ergriffen. Das Wirtschaftsleben brach weitgehend zusammen. Geld für eine kostspielige Erschließung eines neuen Universitätsgeländes gab es keins mehr.

Politischer Nutznießer war die NSDAP. Als sie 1933 in Deutschland an die Macht kam, wurde Fritz Schumacher als Oberbaudirektor entlassen. Mit ihm gingen auch die Pläne für die akademische Stadt in Groß Borstel.
André Schulz

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