Eingesperrt erlebt

von Antje Thietz-Bartram

Am Sonnabend, dem 14. März 2020, wollte ich gerade zum Gärtner gehen, um für die Beerdigung meiner Freundin in Schleswig gerüstet zu sein, als es klingelte. Es stand meine reizende junge Nachbarin, die in dem ersten von den drei Schwesternhäusern in der Stavenhagenstraße wohnt, vor der Tür und fragte mich, ob sie mir etwas einkaufen solle. Denn wegen der um sich greifenden Corona-Pandemie sollten Risikomenschen, also ältere – und ich bin 91 Jahre alt –möglichst zu Hause bleiben. Ich hatte das so noch nicht gewusst und musste mich innerlich umstellen. Doch bedankte ich mich und beschloss erstmal, den Kondolenzbrief zur Post zu bringen. Dabei fuhr ich meinem Auto einen Spiegel ab, für mich das Zeichen, zu Hause zu bleiben. Über Fleurop habe ich dann den Kranz bestellt.

Aber nun blieb ich vollends zu Hause. Am nächsten Tag rief Ulrike an, die unseren Donnerstags-Bridge leitet. Da ich alle Bridge-Utensilien im Auto mitgenommen hatte, wollte sie ihren Mann Ralf schicken, um sie abzuholen, damit sie sie reinigen und überprüfen konnte.

Ralf kam. Wir unterhielten uns noch kurz über meinen 90. Geburtstag im vergangenen Jahr, an dem er die Fotos gemacht hatte, die ich meinem Fotografenfreund in einer CD gesandt hatte. Plötzlich läutete es an der Haustür: Ein Paketbote brachte, nicht zu glauben, das Fotoalbum aus Stuttgart.

Das interessierte Ralf brennend. Wir begaben uns an den großen Esszimmertisch und packten aus. Das Album war fabelhaft, die Fotos so gut aufgebaut in Größe und Anordnung. Ralf war ganz begeistert: „Teile deinem Freund mit, dass er ein Künstler ist, so toll ist es geworden.“ Ralf fuhr zufrieden nach Hause.

Ich rief, sobald ich konnte, bei meinem Freund an. Er entschuldigte sich, dass alles so lange gedauert hatte. Ich aber machte ihm echte Komplimente, denn er hatte schon sehr viele Alben bei all den Festen für uns bereitet: Goldene Hochzeit, diamantene Hochzeit…

Als ich die Fotobücher vorzeigte, wurde bemängelt, dass keine Namen angegeben waren. Alles war noch nie angerührt worden, da ich dazu keine Zeit gehabt hatte. Das sollte sich nun ändern, da ich ja sowieso nicht mehr aus dem Haus gehen konnte.

So holte ich die schweren Fotoalben, so wohl zehn Stück, aus dem Versteck und benutze erleichtert den Treppenlift, der meinem Mann, der einige Jahre im Rollstuhl sitzen musste, das Leben erleichterte. Ich saß bequem, die Alben auf dem Schoß.

Plötzlich blieb der Lift auf halber Treppe stehen, er ging nicht mehr. Und das gerade an der Stelle, an dem mein Mann auch mal am 23. Dezember hängen geblieben war. Nun, ich konnte mich befreien und wollte mich in der nächsten Zeit an die Beschriftung machen.

Dann war Sonntagabend. Ich hatte den Fernseher angestellt, den man in dieser Zeit ja besonders braucht. Er steht im Wohnzimmer. Es war ein ganz alter, kompakter, den ich vor 15 Jahren zum Geburtstag bekommen hatte. Ich war mit ihm zufrieden, auch wenn er einen Receiver haben musste, denn er konnte
noch DVDs und ganz alte Spielfilme zeigen.

Es war ganz ruhig im Haus, schon spät, als plötzlich mit einem lauten Krach von der gegenüberliegenden Wand das runde Porträt meiner Großmutter mütterlicherseits mit dem schweren schwarzen Rahmen von der Wand fiel und mir direkt vor die Füße. Das Ölgemälde hing über einer Mahagoni-Vitrine, die einmal ein aufklappbarer Schreibtisch gewesen war. Auf ihm standen Vasen aus Kristall, Schalen und eine große japanische Deckelvase, die schon die Ausbombung meiner Großeltern väterlicherseits am 20. April 1945 in Neumünster überlebt hatte.

Und hier fiel sie geschickt auf den Teppich, der Deckel kullerte ein Stück weiter als die anderen Vasen, die alle heil blieben. Wenn der Fernseher auch keine äußerlichen Zeichen einer Verletzung zeigte und stehengeblieben war, so war er wohl doch so erschrocken, dass er den Geist aufgab. Ich stellte das Bild wieder auf und lehnte es an den Schrank, sammelte alles zusammen und machte Ordnung: Aber auf den Fernseher musste ich verzichten. Das war besonders in dieser isolierten Zeit sehr unangenehm.

Da fiel mir mein begabter Enkel ein, der sich mit Computern und seinen Möglichkeiten bestens auskennt. Ich mailte ihm, um Hilfe bittend, er möge mir umgehend einen neuen Fernseher besorgen, was er auch sofort tat.

An einem Mittwoch im März wurde mir ein Riesenpaket gebracht. Der Bote hievte es in meinen Flur. Der Fernseher! Ich staunte ihn an, er war fürchterlich dick verpackt. Ich bekam einen Schreck, wer könnte den auspacken und zum Leben erwecken? Ich sah mich dazu nicht in der Lage.

In meinem Alter ist es nötig und auch ein Glück, wenn man Kontakt zu der Jugend hat, seien es nun Enkel oder Nachbarn oder Mitarbeiter.

Das hört sich komisch an, aber wenn man immer Ehrenämter angenommen hat und sich in Vereinen einbringt, z. B. als Rechnungsprüfer, hat man dieses Glück. Denn mich rief ganz unerwartet plötzlich mein Schatzmeister an. Er bräuchte noch eine Unterschrift von mir, er komme um 18 Uhr. Mein Puls wurde schneller, das ist die Fernsehrettung!

So war es. Als der junge Mann kam, stolperte er fast über das Monstrum. Dann sah er meine bittenden Blicke und wusste gleich Bescheid. Es hat zwei Stunden gedauert, dann funktionierte der neue Apparat. Dabei vergaß ich ganz, die Bananen zu bezahlen, die ich bei ihm bestellt hatte.

Als man doch wieder einkaufen konnte, machte ich mich wieder auf den Weg. Das Eingesperrt-Sein musste ein Ende haben: Ich fürchtete, noch mehr Bilder könnten von der Wand fallen oder andere Geräte ihren Geist aufgeben.

Als Kind sollte ich einmal einen Aufsatz über „Mitternachtszauber im Kinderzimmer“ schreiben. Da wanderten die Möbel, und die Puppen tanzten. So etwas wollte ich nicht erleben! So versuchte ich es mit ein wenig Normalität, was mir meine Geräte und Möbel bis heute danken.