Die Alsterkinder am Borsteler Bogen

In den 1950er Jahren wurde am Borsteler Bogen noch Schokolade produziert. Die Anglo-Asiatic Company Ltd aus Danzig war in Groß Borstel gestrandet und produzierte hier als „Anglas Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik Ulrich Thomas“ von 1950 bis 1957 ihre Anglas-Schokolade. Später waren die Fertigungshallen am Borsteler Bogen Standort der Firma Bran & Lübbe, Spezialist für Pumpensysteme, bevor die Firma sich vergrößerte und nach Norderstedt umzog.

2008 wurden die alten Fabrikhallen éntkernt und ein moderner Neubau entstand, die ABB Studiolofts, mit vielen schmucken Büros. Vorne an der Straße steht aber noch ein Überbleibsel der alten Zeit, ein ehemaliger Lagerschuppen. 2007 zog hier die Lardon Media AG ein. Ihr Gründer Thomas Lardon hatte Anfang der 1990er Jahre in Kooperation mit den Sendern RTL und SAT 1 sehr erfolgreich Begleitbücher und Kalender zu Fernsehserien produziert. Dann verlegte er Biografien und Fotobände über Film- und Fernsehstars. Inzwischen betreibt Thomas Lardon eine Fotogalerie auf dem Darß. Den Schuppen am Borsteler Bogen hatte er mit seinem Verlag schon 2009 wieder verlassen. Als Nachmieter zogen die „Alsterkinder“ ein.

Das Haus der Alsterkinder wird liebevoll „unser kleiner Schuhkarton“ genannt.
Im Waschbereich gibt es ein Planschbecken.

Der Verein „Die Alsterkinder e.V.“ entstand 1992 aus einer Elterninitiative, um an der Fontenay einen privaten Kindergarten zu gründen. Wegen eines Neubaus musste der Kindergarten zwei Jahre später weichen und fand an der Meenkwiese 39 im Souterrain einen neuen Standort, bevor er 2009 in den Fabrikschuppen am Borsteler Bogen 27 umzog, der liebevoll „unser kleiner Schuhkarton“ genannt wird.

Groß ist das Haus in der Tat nicht, aber heimelig. Beim Einzug wurde das Innenleben umgebaut und den Bedürfnissen des Kindergartens angepasst. Es gibt zwei große Spielräume, einen Essensbereich mit Küche, einen Schlafraum, in dem die Kinder ihren Mittagsschlaf halten können. Im Flur hat jedes Kind einen eigenen kleinen Schrank mit seinem Foto. Daneben schwimmen einige Fische in einem großen Aquarium. Im Wasch- und Toilettenbereich gibt es ein Planschbecken. „Die Begegnung mit Wasser und Schwimmunterricht wird bei uns groß geschrieben“, erklärt Jule Schwetasch, die den Kindergarten seit 2007 leitet. Alle Kinder sollen mindestens das Seepferdchen machen. Für den Schwimmunterricht hat der Alsterkinder e.V. das Lehrschwimmbecken in der Stadteilschule Niendorf gemietet. Die Schwimmtests werden im Bondenwald oder im Ariba durchgeführt. Alle Betreuer sind vom DLRV als Lebensretter ausgebildet, einige außerdem als Seepferdchen-Ausbilder oder Schwimmausbilder.

Die insgesamt zehn Betreuer kümmern sich derzeit um 36 Kinder. Die Jüngsten sind ein Jahr alt, die Ältesten im Vorschulalter. Der Kindergarten ist von 7 bis 17 Uhr geöffnet, mit einer Kernzeit von 7 bis 14 Uhr. Der Tagesablauf ist klar geregelt, wird aber flexibel gestaltet. Nach dem Eintreffen der Kinder haben diese zunächst Gelegenheit frei zu spielen. Direkt am Haus befindet sich ein Abenteuerspielplatz. Eine große Hecke grenzt das Gelände zur Straße hin ab. Über den Tag verteilt erhalten die Kinder Frühstück, Mittagessen und in der „Schmausepause“ am Nachmittag frisches Obst. Nach dem Frühstück überlegen Kinder und Betreuer zusammen, wie der Tag gestaltet werden soll. Das geschieht basisdemokratisch – die Kinder entscheiden mit.

Als grüner Stadtteil bietet Groß Borstel viele Ausflugsmöglichkeiten. In unmittelbarer Nähe liegt der Spielplatz am Roggenbuckstieg. Auch die Tarpenbek mit ihren grünen Auen oder das Eppendorfer Moor sind fußläufig schnell zu erreichen. Die Kleinsten werden in einem mehrsitzigen Bollerwagen zu den Zielen gefahren. Ins Niendorfer Gehege kommt man schnell mit dem HVV.

Die Alsterkinder sehen ihren Kindergarten als „Ausflugskindergarten“, aber die Ausflüge sind keineswegs auf die nähere Umgebung beschränkt. Nicht nur Ziele in ganz Hamburg werden angefahren, auch solche in Norddeutschland oder sogar noch weiter entfernte. Einmal im Jahr steht ein fünftägiger Ausflug auf dem Programm, regelmäßig zu einem Ponyhof an der Nordsee. Die Vorschläge zu den täglichen Ausflugszielen kommen zumeist von den Kindern, die sich dabei als ausgesprochen findig erweisen. Wer Geburtstag hat, darf sich ein Ausflugsziel wünschen, entweder nur für sich und seine oder ihre Freunde oder Freundinnen oder für alle Kinder.

Das bislang weiteste Reiseziel war Köln. Anlass für diese Reise war eine Star-Wars-Ausstellung. Der Vorschlag gewann nach einer Kampfabstimmung. Der Gegenvorschlag war ein Ausflug nach Mallorca. Die Familie eines Mädchens besaß dort eine Ferienwohnung und das Mädchen wollte diese gerne den anderen Kindergartenkindern zeigen, na klar. „Wenn der Mallorca-Vorschlag bei der Abstimmung gewonnen hätte, hätten wir uns überlegen müssen, wie wir das realisieren“, meinte Jule Schwetasch. Die zweitägige Fahrt nach Köln mit der Bahn und Übernachtung in der Jugendherberge war leichter durchzuführen. Manche Ausflüge werden phantasievoll vorbereitet. Aus der Frage, warum an den Bahnsteigkanten der Hochbahn geriffelte Steine verlegt sind – damit Blinde mit ihrem Stock ertasten können, wo die Bahnsteigkante ist – entwickelten die Kinder selber ein Trainingsprogramm. Sie setzten sich mit Klebeband überklebte Tauchermasken auf und versuchten nachzuempfinden, wie Blinde sich zurechtfinden, als Vorbereitung für einen Besuch der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“. Als Kinder aus dem Umfeld des Hamburger SV den Kindergarten besuchten, standen regelmäßige Besuche des HSV auf dem Programm.

Einmal im Jahr steht ein fünftägiger Ausflug zu einem Ponyhof an der Nordsee auf dem Programm.

Am 2. Juli feierte der Alsterkinder e.V. sein 30-jähriges Bestehen mit einem großen Kinderfest. Die Kinder der Gründerzeit haben jetzt selber schon Kinder und feiern vielleicht mit. Jule Schwetasch und der Alsterkinder Verein würden gerne noch ein zweites Haus an anderer Stelle in Groß Borstel eröffnen, doch die Suche nach einem Standort gestaltet sich schwierig. „Viele Vermieter möchten keinen Kindergarten, weil sie denken, das gibt Ärger mit den Nachbarn“, sagt Jule Schwetasch. „Dabei sind wir ganz pflegeleicht. Wir sind nicht laut und am Wochenende sind die Kinder gar nicht da.“

André Schulz