Der Handkuss oder „Späte Verehrung“

von Antje Tietz-Bartram

Zum zweiten Mal besuchte ich an einem Abend im November Jasper Jaspersen. Ich wollte mir wieder fünf oder zehn Bücher holen, die mein Alter Jugendfreund und Psychiater Doktor Uwe Peters über Jaspers Vater Karsten Jaspersen geschrieben hatte. Das Buch hat den Untertitel: „1940 … der einzige deutsche Psychiater, der alles riskierte, um den Krankenmord (Euthanasie) zu verhindern.“ Zu der Zeit war er Direktor in Bethel.

Da die Familie Jaspersen aus meiner Heimatstadt Preetz stammt, so wie Uwe Peters und ich, war mein Interesse groß.

Bevor ich mit den Büchern davonzog, setzte ich mich noch zu Jasper. Wir haben uns immer viel zu erzählen. An dem breiten Esszimmertisch hatte ich Platz genommen. In dem Bungalow ist alles offen, so geht auch diese Esszeile in die große Küche über. Von unserem interessanten Gespräch weiß ich leider nichts mehr.

Plötzlich klingelte es an der Haustür, und ein Klopfen setzte ein. Ich sprang auf, um zu öffnen, da Jasper nur mit Mühe aufstehen konnte.
Es trat ein sehr großer Herr ein, er hatte keinen Mantel an. ‚Bei der Kälte‘, wunderte ich mich. Es war neblig, man konnte kaum etwas sehen. Und nun dieser überraschende Besuch.

Sofort schaute dieser sich um, lief in die Küche, griff sich eine Küchenpapierrolle, blieb stehen, fixierte mich und murmelte: „Ja, Sie habe ich schon mal gesehen.“

Auf den fragenden Blick von Jasper antwortete er: „Ja, mir ist ein Missgeschick passiert, ich habe eine Flasche umgegossen, meine Frau ist ärgerlich, ich muss unbedingt diese Küchentücher zum Aufwischen haben“, sprach‘s, ergriff eine Küchenrolle und verschwand, wie er gekommen war. Ich war verblüfft und musste wirklich lachen, es war alles so komisch. Jasper schien sich kaum zu wundern. „Das war eben mein Nachbar Professor Munck. Er war bis Mitte 1990 Chefarzt der Kinderklinik in der Weidestraße.“

Auf einmal schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf. In dieser Kinderklinik war unser verstorbener Sohn Christian, als er, durch seine Krankheit bedingt (endogene Depression), zur S-Bahn ging und sich auf die Schienen legte.

Kaum hatte ich dies gedacht, klingelte es schon wieder energisch, ich öffnete.

Es war wirklich komisch. Denn diesmal hatte Professor Munck einen Mantel an und trug einen eingeschweißten Packen Küchenrollen. Er ging schnell in die Küche und legte die Tücher ab.

„Wo haben Sie die denn so schnell her?“, fragte ich erstaunt. „Ich war im Supermarkt nebenan“, antwortete er geistesabwesend. Dann schaute er mich durchdringend an. Da ich ihn nun einordnen konnte, sagte ich: „Mein Sohn Christian war in Ihrer Kinderklinik, als er sich das Leben nahm. Übrigens ist auch mein Schwiegersohn Kinderarzt.“ Ich sagte den Namen. „So, ist er das?“, antwortete der Herr.

Dann ging er einen Schritt auf mich zu und murmelte: „Ich bin nur gekommen, um Ihnen einen Handkuss zu geben.“ Er schritt auf mich zu, nahm meine Hand, schaute mir tief in die Augen und küsste meine Hand relativ lange. Mit den Worten, „Ich muss nun aber sofort nach Hause“, verschwand er.

Ich war doch aufgewühlt von diesem Erlebnis und nahm die Bücher, die ich bestellt hatte, und eilte hinaus. Tief atmete ich durch und setzte mich ins Auto. Bevor ich losfuhr, erinnerte ich mich plötzlich daran, dass ich diesen Professor Munck auch schon gesehen hatte – bei der Beerdigung unseres Sohnes. Der Professor war, wie mir schien, der letzte, der aus der vollbesetzten Kirche St. Johannis Eppendorf ging. Er ließ sich Zeit, gab mir die Hand, sagte etwas Warmes und blieb so lange stehen, bis die Trauergemeinde sich aufgelöst hatte. Ich stieg ins Auto, in dem mein Mann schon wartete, um nach Preetz zum Friedhof zu fahren.

Aus : „Was ich nicht wusste“, Erinnerungen