DER 100-JÄHRIGE, DER DIE BORSTELER CHAUSSEE ENTLANG GING

Vor hundert Jahren lebten wir, das mag kaum jemanden überraschen, in einer vollkommen anderen Welt. Wir hatten andere Gerüche, andere Klänge, eine andere Luft in diesem abgelegenen Dorf, in dem wir wohnten. Der „große Krieg“, wie man ihn damals nannte, war gerade vorüber, welch ein Segen. Aber auch das Kaiserreich war untergegangen; alles änderte sich. Versuchen wir, uns in diese Zeit hineinzuversetzen.

Am 4. Oktober des vergangenen Jahres, also 1918, ersuchte Reichskanzler Max von Baden die Alliierten um einen Waffenstillstand. Jedoch versuchte die deutsche Admiralität am 30. Oktober unter Führung von Franz Hipper (zwei Jahre zuvor von Wilhelm II. zu Ritter von Hipper geadelt) mit einem Vorstoß der Flotte gegen die Engländer und Amerikaner das Kaiserreich zu retten und die Kriegstätigkeit wieder aufzunehmen, und scheiterte. Die Matrosen streikten in Wilhelmshaven und Kiel. Der Krieg war zu Ende. Die Novemberrevolution brach aus. Die Räterepublik wurde in München ausgerufen, in Berlin verkündete Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags das Ende des Kaiserreichs und den Beginn der Deutschen Republik.
Anfang 1919, vermutlich im Januar, spätestens im Februar muss Redaktionsschluss beim Borsteler Boten gewesen sein, für die erste Ausgabe der Zeitschrift des Kommunalvereins. Was für eine Zeit! Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren von Berliner Polizisten ermordet worden, zwischen USPD und KPD einerseits und den Sozialdemokraten andererseits, die den Polizeisenator Berlins stellten, herrschte erbitterter Streit, den später die Nationalsozialisten ausnutzen sollten.

Vor hundert Jahren ging eine junge Mutter in frühlingshafter Luft mit ihrem Neugeborenen durch Groß Borstel. Beginnen wir ihre kleine Reise an der beliebten Gaststätte Zum Schießstand, damals schon an der schönen Lindenallee Borsteler Chaussee gelegen, heute ebendort, und zwar an der Kreuzung Rosenbrook/Alsterkrugchaussee. Unser frisch geborener 100-Jähriger blinzelte vielleicht schon verliebt seine Mutter an, die hier, natürlich mit einem druckfrischen Exemplar des neuen Borsteler Boten versehen, ihren Ausflug begann. Links das Lokal Zum Schießstand, rechts hinter der kleinen Trafostation für die elektrische Straßenbahn das dunkle Borsteler Moor, das früher vom alten Schießstand überdeckt war und das Eppendorfer Moor genannt wurde, weil die Stadtteilgrenze ursprünglich am Klotzenmoor verlief.

Die Chaussee war seit 1906 gepflastert, hatte jedoch noch keinen befestigten Bürgersteig, dafür drei wunderschöne Reihen Linden. Die junge Mutter musste zusehen, dass sie nicht über den arg unebenen Weg stolperte. Einen Kinderwagen konnte sie sich nicht leisten. 1919 mussten die meisten Menschen in Groß Borstel in bitterer Armut leben, waren froh, genügend zum Heizen und zum Essen zu haben.

Groß Borstel hatte nur etwa 3000 Einwohner, Eppendorf schon 84 000, Eimsbüttel gar 124  000. In gewisser Weise fühlte sich unser Stadtteil vom Rest der Welt abgehängt, erst durch die Straßenbahn 1903 und die Eingemeindung 1910 gehörte der Stadtteil Groß Borstel zum prosperierenden Hamburg – der Kommunalverein hatte lange mit Petitionen an die Hamburgische Bürgerschaft und Unterschriften aller 80 Grundeigentümer dafür gekämpft.

Die junge Mutter musste aufpassen, dass die rumpelnde Straßenbahn (Linie 24: Horn – Groß Borstel) den kleinen Säugling nicht erschreckte.

Übrigens: Zwanzig Jahre später hörte man an dieser Stelle schon das Hämmern und Dengeln der Vereinigten Hamburger Metallfabriken, einer riesigen Rüstungsfabrik mit vielen Zwangsarbeitern zur Herstellung von Flugzeugteilen.

1919 stank es am Anfang der Borsteler Chaussee noch bestialisch nach Lederfabrik, die ammoniakhaltigen Abwässer der Gerberei wurden ungeklärt in die Tarpenbek entsorgt. Erst die zunehmende Mehrgeschossbebauung am Rosenbrook und am Anfang der Borsteler Chaussee erforderte die Einleitung der stinkenden Gerbereiabwässer in ein gesondertes Siel. Die neuen Anwohner waren sofort in den Kommunalverein eingetreten und hatten sich dort beschwert.

Der Kommunalverein kümmerte sich in seiner ersten Ausgabe des Borsteler Boten natürlich auch um das frisch in dem Verein eingeführte Frauenwahlrecht. Die Weimarer Republik erlebte ihre ersten Anfänge der Demokratie. Auf Beschluss des Reichsrätekongresses wurde am 19. Januar 1919 die Wahl zur Deutschen Nationalversammlung abgehalten. Diese wählte wiederum am 11. Februar 1919 Friedrich Ebert (SPD), der zwei Tage später das Kabinett des Sozialdemokraten Philipp Scheidemann ernannte. Die neue Reichsverfassung trat dann erst im August in Kraft.

Derweil prosperierte Groß Borstel zum Ausflugsort. Gegenüber der Lederfabrik begann eine Perlenkette von Ausflugslokalen: Burmesters Salon, Kaschs Abstinenz-Restaurant (gegenüber dem heutigen Jakob-Junker-Haus), dann Zum Paulaner und an der Ecke Woltersstraße das Restaurant Louis Nipp. Dort wo jetzt das „Grill-Haus Der Grieche“ steht, gab es Hejas Imbiss. Die Borsteler Vergnügungsmeile zog sich über die Borsteler Chaussee und Spreenende mit der heute noch betriebenen Gaststätte Zu den drei Eichen bis hin zum Borsteler Jäger.

Leider ist die erste Ausgabe des Boten nicht erhalten geblieben. Aber wir können Protokollen und Notizen aus der Zeit entnehmen, dass sich der Kommunalverein neben seinen geselligen Aktivitäten besonders als Interessenvertreter aller Groß Borsteler, egal welcher politischen Richtung sie angehörten, verstand und sich stärker als viele Bürgervereine für Belange der Arbeiterschaft und der sozial Benachteiligten einsetzte.

Das kleine abgehängte und teilweise verarmte Dorf erhielt durch Forderungen des Kommunalvereins beleuchtete Straßen, eine elektrische Straßenbahn, einen Sielanschluss mit Pumpwerk und Trinkwasserversorgung, später eine öffentliche Bücherhalle, eine Polizeistation und ein Postamt.

Wir haben heute zwar noch fließend Wasser, aber schon lange kein Postamt mehr, statt einer Polizeistation zwei freundliche bürgernahe Beamte (Bünabes), anstelle der öffentlichen Bücherhalle einen kleinen Bücherschrank und statt der elektrischen Straßenbahn ständig überfüllte Dieselbusse, die in der Rush Hour im Stau stehen und für einen absurden Streit unter Lungenfachärzten sorgen.

100 Jahre Borsteler Bote: Ein 100-Jähriger würde heute durch die Geschichte des Stadtteils blättern und sich freuen, dass es den Boten und den Kommunalverein noch gibt. Angesichts des Wachstums der Bevölkerung auf über 12 000 Einwohner wird Groß Borstel auf sein politisch einflussreiches Sprachrohr auch künftig nicht verzichten wollen.

Aufgezeichnet von U. Schröder