Zum 100 Jahrestag der „Sachsenwald“- Expedition
(Teil 2)

Am 17. März 1922 hatte das Frachtschiff „Sachsenwald“ der Hamburger Spedition Hapag in Hamburg abgelegt und seine Fahrt nach Kuba aufgenommen. Neben der Mannschaft befanden sich zwei Forscher an Bord, Alfred Wegener und sein Assistent Erich Kuhlbrodt. Offiziell gehörten die beiden Meteorologen des Hamburger Seeamtes zur Crew der Sachsenwald. Die Männer trugen die Montur der Besatzung und ihre Namen waren auch in der Mannschaftsliste eingetragen. Tatsächlich wollten die beiden Forscher aber mehr über die Höhenwinde über dem Atlantik in Erfahrung bringen. Die deutsche Luftfahrtindustrie dachte vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges an Atlantiküberquerungen mit Luftschiffen. 1922 war aber noch beides verboten: Der Bau von Luftschiffen und solche Forschungen, wie Wegener und Kuhlbrodt sie durchführen wollten. Das war der Grund für ihre Tarnung.

Das Frachtschiff „Sachsenwald“ hatte eine ereignisreiche Geschichte hinter sich. Das Schiff war 1910 in Glasgow gebaut und als „Earl of Forfar“ in Dienst gestellt worden. 1916 befand sich die „Earl of Forfar“ im Hafen von Archangelsk, als dort der Munitionstransporter „Baron Driesen“ mit 1600 Tonnen Munition explodierte, dabei einen ganzen Stadtteil von Archangelsk zerstörte und unzählige Todesopfer forderte. Die „Earl of Forfar“ wurde ebenfalls beschädigt und sank. 1918 wurde das Schiff gehoben, zur Reparatur nach Hamburg geschafft und 1919 von der Hapag gekauft. Zunächst fuhr das Schiff als „Mette Jensen“ unter dänischer Flagge. 1921 übernahm die Hapag das Schiff selbst, benannte es in „Sachsenwald“ um und setzte es vorwiegend im Nord- und Südamerika-Dienst ein. Das 117 Meter lange Schiff war mit zwei Segelmasten ausgestattet und besaß als weiteren Antrieb zudem eine Verbunddampfmaschine.

Alfred Wegener und Erich Kuhlbrodt hatten sich für ihre verdeckten Forschungen gezielt ein unverdächtiges Frachtschiff ausgesucht. Dass ausgerechnet die Hapag bei dem Unternehmen behilflich war, war kaum zufällig. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Hapag für die Zeppelinreisen die Werbung und die Passagierabfertigung organisiert. Als die Zeppelinfahrten 1929 wiederaufgenommen wurden, erhielt die Hapag das Exklusivrecht des Zeppelin-Betreibers Deutsche Luftschifffahrt AG für den Fahrkartenverkauf im In- und Ausland.

Wegeners und Kuhlbrodts Forschungen bestanden vor allem darin, die über dem Atlantik herrschenden Höhenwinde zu messen. Zweimal am Tag ließen die beiden Forscher sogenannte Pilotballone aufsteigen, kleine Ballone aus Gummi, zumeist in weit sichtbarerer roter Farbe, die mit einem Gas so befüllt wurden, dass ihre Aufstiegsgeschwindigkeit bekannt war. In der Anfangszeit der Meteorologie war das Befüllen dieser Pilotballone mit Gas nicht trivial: Johannes Georgi hat den Vorgang in seinem Bericht zu Alfred Wegeners letzter Grönlandfahrt beschrieben: „Pilotballone aus Gummi werden mit je etwa einem Kubikmeter Wasserstoffgas aufgeblasen und frei fliegen gelassen. Wenn nur die Gaserzeugung und Füllung einfacher wären! In einem besonders für uns konstruierten Apparat lässt man Wasser auf Kalziumhydrid tropfen, wobei sich Wasserstoff bildet. Das Gas ist aber sehr heiß und mit Wasserdampf gesättigt, der Ballon würde zerstört werden. Es muss zuvor abgekühlt und getrocknet werden, und das geht ganz gut, solange die Gasentwicklung langsam genug verläuft, wobei die Füllung selbst etwa fünf Stunden dauert. Während dieser Zeit muss man ununterbrochen auf dem Posten sein.“

Mit der Messung der Zeitspanne zwischen dem Start und dem Eintauchen des Ballons in die Wolkendecke wurde die Höhe der Wolkenunterdecke ermitteln. Die optische Verfolgung der Flugbahn der Ballone erlaubte einen Rückschluss auf die Richtung und die Geschwindigkeit der Höhenwinde. Zur besseren Beobachtung der Flugbahn der Pilotballone hatten Wegener und Kuhlbrodt ein spezielles Gerät konstruiert und anfertigen lassen, einen Spiegel-Theodoliten. Ihre Forschungsreise auf der „Sachsenwald“ diente auch dem Test dieses neuen Instruments unter Realbedingungen.

Bei Beginn der Reise war das Wetter auf See sehr stürmisch und regnerisch. Das änderte sich, als die „Sachsenwald“ auf der Höhe von Nordafrika die Zone der Passatwinde erreichte. Nach fünf Tagen Fahrt war die „Sachsenwald“ an ihrem ersten Ziel angekommen und legte in Havanna an. In Kuba fuhr das Schiff noch eine Reihe von weiteren Häfen an und verließ die Insel danach in Richtung Mexiko. Am 30. April wurde Veracruz erreicht, wo die „Sachsenwald“ elf Tage lang ankerte. Wegener und Kuhlbrodt wurden von der örtlichen wissenschaftlichen Gesellschaft empfangen, der „Sociedad Cientifica Antonia Alzate“, hielten Vorträge über ihre Forschungen und wurden schließlich als Ehrenmitglieder aufgenommen. Nach der Abreise benötigte die Sachsenwald neun Tage, um am 20. Mai 1922 New Orleans zu erreichen. Nach drei Tagen im Hafen kreuzte das Schiff um Florida herum und fuhr am 28. Mai Jacksonville an der Atlantikküste an. Hier blieb das Schiff bis zum 16. Juni.

Auch während der Aufenthalte in den amerikanischen Häfen führten die beiden Meteorologen anfangs wie geplant ihre Ballonaufstiege durch, doch der Kapitän der Sachsenwald befürchtete dann, die illegalen Forschungen auf dem deutschen Frachtschiff könnten vielleicht entdeckt und das Schiff beschlagnahmt werden und verbot deshalb alle weiteren Forschungen in den Häfen.

Die Rückfahrt nach Europa verlief in großen Teilen ebenso stürmisch wie die Hinfahrt. Wegener und Kuhlbrodt setzten ihre Forschungen dennoch unvermindert fort, verloren dabei aber im schlechten Wetter und bei dichter Bewölkung so gut wie alle ihre Ballone. Alfred Wegener ließ sich trotzdem die gute Laune nicht verderben. Während der Fahrt schrieb Wegener einige fröhliche Schüttelreime, wie diesen:

„Auf hoher See, Hipp Hipp Hurra, wir fahren nach Amerika.
Wir stampfen gegen Wind und See, sieben Meilen Fahrt, Herrjemineh!

Nach der dreimonatigen Reise erreichten die Forscher am 18. Juni wieder den Heimathafen in Hamburg. Die „Sachsenwald“ stand noch bis 1931 im Dienst der Hapag. Im Januar 1932 trat der Frachter seine letzte Reise nach Genua an, wo das Schiff abgewrackt wurde.

André Schulz