Zum 100. Jahrestag der „Sachsenwald“- Expedition
(Teil 1)

Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war Groß Borstel ein beliebter Treffpunkt führender nationaler, aber auch internationaler Meteorologen. Das lag daran, dass in der damaligen Violastraße, heute Köppenstraße, Wladimir Köppen seinen Wohnsitz hatte. Der Sohn einer in Russland lebenden deutschen Familie war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Wetterforschung. 1875 war er nach Hamburg gezogen, um hier die Leitung des Seewetterdienstes der neuen Hamburger Seewarte zu übernehmen. Auf den Feldern hinter seinem Haus zwischen dem Moorweg und dem Weg beim Jäger richtete Köppen eine Drachenstation ein, um mit aufgestiegenen Wetterdrachen die Bewegungen in der Luft zu erforschen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg nahm der Meteorologe Alfred Wegener Kontakt zu Wladimir Köppen auf. Wegener war die Symmetrie der Küstenlinien von Südamerika und Afrika aufgefallen, und er hatte daraus seine Theorie der Kontinentalverschiebung entwickelt, die damals aber kaum Anerkennung fand. In Köppens Haus lernte Alfred Wegener Köppens Tochter Else kennen. 1913 heiratete das Paar.

Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Wegener eine Stelle als Leiter der Versuchsanstalt der Seewarte an und zog mit seiner Familie in Köppens Haus in der Violastraße 7 ein. 1921 wurde Wegener zudem als außerordentlicher Professor an die neu gegründete Hamburger Universität berufen. Im Gefolge von Alfred Wegener kamen weitere Meteorologen nach Hamburg. Wegener brachte seinen Bruder Kurt mit, der nun ebenfalls an der Seewarte arbeitete und auch eine Wohnung in Groß Borstel bezog. Nach drei Jahren ging Kurt Wegener aber bereits nach Berlin, um dort für den Wetterdienst Höhenflüge durchzuführen.  Er war begeisterter Flieger.

Ebenfalls 1919 kam Johannes Georgi nach Hamburg. Wegener und Georgi hatten sich in Marburg kennengelernt, wo Wegener vor dem Ersten Weltkrieg als Privatdozent tätig war. Georgi bezog später ein altes reetgedecktes Fachwerkhaus an der Borsteler Chaussee, in dem er bis zu seinem Lebensende wohnte und das dort heute noch steht.

Schließlich holte Alfred Wegener auch noch Erich Kuhlbrodt nach Hamburg und machte ihn zu seinem Assistenten. Die beiden Forscher hatten sich während des Ersten Weltkrieges in Mazedonien kennengelernt, wo Wegener eine Wetterstation des Deutschen Heeres leitete und Kuhlbrodt ihm unterstellt war. Wegen des Ersten Weltkrieges hatte Kuhlbrodt sein Studium eigentlich ohne Abschluss beendet, aber Wegener schlug Kuhlbrodt vor, die Promotion nachzuholen, damit Kuhlbrodt ihn bei seinen Vorlesungen an der Universität vertreten konnte, in den Zeiten, in denen der abenteuerlustige Wegener auf seinen Forschungsreisen war. Kuhlbrodt folgte diesem Vorschlag gerne.

Erich Kuhlbrodt wohnte nicht in Groß Borstel, sondern in Eppendorf. Er war aber in Groß Borstel häufig zu Gast. In der von Köppen errichteten Wetterstation, nichts weiter als eine kleine Hütte mit einigen Befestigungsvorrichtungen für die Wetterdrachen, teilte Kuhlbrodt sich in den 1920er-Jahren einen Schreibtisch mit Alfred Wegener. Es gab in der Hütte noch einen zweiten Arbeitsplatz, der von Johannes Georgi besetzt war. Über das rein Berufliche hinaus gewann Groß Borstel für Erich Kuhlbrodt aber noch eine weitere Bedeutung. Im Haus von Johannes Georgi lernte er nämlich später seine Frau Luci Raehder kennen. Sie war Georgis Assistentin. Das Paar heiratete 1929.

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war in Deutschland von großer Not und Mangel geprägt. Es fehlte an allem. Die Familien Köppen und Wegener lebten größtenteils von dem, was sie im eigenen Garten anbauen konnten. Die geringen finanziellen Einkünfte fraß die Inflation weg. So war es für Alfred Wegener und seinen Assistenten Erich Kuhlbrodt bestimmt eine willkommene Abwechslung, als sie Anfang 1922 den Auftrag zu einer Forschungsfahrt auf dem Atlantik erhielten.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Entwicklung von Luftschiffen – Zeppelinen – einen Aufschwung genommen. Im Krieg wurden die Luftschiffe zumeist militärisch eingesetzt. Nach Ende des Krieges musste das Deutsche Reich deshalb die noch intakten Luftschiffe abgegeben. Im Versailler Vertrag war dem Deutschen Reich der Bau von neuen Luftschiffen, auch Flugzeugen, dann ausdrücklich untersagt. Aber man dachte voraus.

In ihrer Außenpolitik bemühte sich die Reichsregierung um eine Abmilderung der rigiden Bestimmungen des Versailler Vertrages und hatte mit dem Vertrag von Rapallo einen ersten Erfolg erzielt. Am 22. April normalisierte das Deutsche Reich mit diesem Vertrag seine Beziehungen zum nun sozialistischen Russland. Drei Jahre später folgte der Vertrag von Locarno, in dem Außenminister Gustav Stresemann für das Deutsche Reich unter anderem die neuen Westgrenzen des Deutsche Reiches, ohne Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy festschrieb, dafür aber eine Reihe von Erleichterungen gegenüber den Bestimmungen des Versailler Vertrags erreichte.  Als eines der Ergebnisse war Deutschland nach 1925 auch der Bau von Luftschiffen und Flugzeugen wieder erlaubt.

Luftschiffe eröffneten zu Beginn der 1920er-Jahre die Möglichkeit zu schnelleren Reisen über den Atlantik hinweg, als Alternative zu den länger dauernden Reisen per Schiff. Auch Reisen nach Fernost waren mit Luftschiffen gut denkbar. Allerdings waren die großen leichten Luftschiffe in hohem Maße von den Wetterbedingungen abhängig und Unwettern ausgesetzt. Das galt ganz besonders bei Reisen über dem Meer. Im Hinblick auf die kommenden Transatlantikfahrten mit Luftschiffen nach Süd- und Nordamerika hatte die Luftfahrtindustrie also ein hohes Interesse, mehr über die Wetterbedingungen auf den geplanten Routen zu erfahren. Allerdings waren solche Forschungen 1922 gemäß dem Versailler Vertrag in Deutschland ebenfalls verboten, konnten also nicht offiziell auf einem Forschungsschiff durchgeführt werden. Alfred Wegener und sein Assistent Erich Kuhlbrodt mussten verdeckt arbeiten. Anfang März schifften sich die beiden Forscher auf einem Frachtschiff der „Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft“ (HAPAG) ein. Offiziell gehörten die beiden Forscher zur Crew. Am 17. März 1922, fast genau vor hundert Jahren, legte die „Sachsenwald“ ab. Das erste Ziel war Kuba.

Fortsetzung folgt.

André Schulz