Wie der Holunderweg entstand

Der Holunderweg verbindet den Schrödersweg mit dem Brödermannsweg und ist mit seinen vielen alten Stadtvillen eine der schönsten Straßen von Groß Borstel. Hier befand sich einst die Frustbergkoppel, von den Besitzern des Frustberghofes als Weide genutzt. Einer der letzten privaten Besitzer des Hofes, Dr. Otto Nanne, promovierter Jurist und erfolgreicher Orchideenzüchter, verkaufte gegen Ende des 19. Jahrhunderts Teile des großen Frustberggrundstückes an vermögende Hamburger, die sich im beschaulichen Groß Borstel einen Landsitz bauen wollten. Die heutige Frustbergstraße wurde noch 1902, ein Jahr vor seinem Tod, von Dr. Nanne geplant, aber erst 1906 vom nächsten Besitzer des Hofes, Dr. August Herbst, realisiert. Die Frustbergkoppel bis hin zum heutigen Brödermannsweg, der damals noch Schulweg hieß, hatte Jacob August Erdmann Ahlswede erworben. Nach dessen Tod kaufte das Künstlerehepaar Marie Helene und Wilhelm Martens das Grundstück zwischen Schrödersweg und Schulweg mit den Mitteln aus einer Erbschaft von der Familie von Marie Martens. Auf dem Land existierte auch noch eine alte Bauernkate des nach einem früheren Besitzer sogenannten Gülckschen Hofes.

Das Ehepaar Martens hatte sich beim Kunststudium in Berlin kennengelernt; sie studierten eine Zeit lang zusammen an der Kunstakademie in Paris und heirateten nach der Rückkehr 1905 in Berlin. 1906 zog das Paar zunächst in die Nähe von Hamburg, nach Blankenese. Nach dem Kauf des Grundstückes in Groß Borstel ließen sich die Martens eine prächtige Villa am Schulweg 92 bauen, mit einem Atelier im 1. Stock, in dem später viele Gemälde mit den typischen Landschaftsmotiven der von Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, inspirierten Hamburger Schule entstanden.

Den Kauf des Grundstückes aus dem Nachlass von Jacob August Erdmann Ahlswede hatten dessen Erben allerdings mit Auflagen verbunden. So war der Käufer verpflichtet, eine feste Verbindungsstraße zwischen dem Schulweg und dem Schrödersweg anzulegen. Auf den Grundstücken am Rande der neuen Straße durften zudem nur Häuser zu Wohnzwecken im Villenstil gebaut werden. Gewerbegebäude oder Läden waren nicht gestattet. Die neue Straße sollte eine reine Wohnstraße werden. Die Auflagen wurden im Grundbuch verbindlich eingetragen und die Käufer der Grundstücke mussten ausdrücklich ihre Zustimmung zu den Kaufbedingungen erklären.

1910 war die Straße, zu deren Bau Wilhelm Martens verpflichtet war, fertiggestellt und wurde mit dem Namen „Holunderweg“ amtlich eingetragen. Die Parzellen rechts und links der Straße verkaufte Wilhelm Martens weiter und entwarf als Baumeister auch gleich die Häuser, die darauf stehen sollten. Auch für das Aussehen der Häuser gab es verbindliche Auflagen und Vorschriften. Nur zweigeschossige Häuser im Villenstil sollten hier entstehen, mit einem klar erkennbaren Dachgeschoss und Schrägdächern mit einer Neigung von 30 Grad. Die Häuser sollten zusammen eine homogene Baulinie zum Straßenrand bilden. Maximal ein Drittel der Grundstücke durften bebaut werden. Jedes Haus musste zum Nachbargrundstück mindestens zwei Meter Abstand haben.

Da Wilhelm Martens selber keinen akademischen Abschluss als Architekt besaß, musste er seine Pläne für den Bau der Häuser am Holunderweg über einen befreundeten Architekten bei den Behörden einreichen. So entstand nach Wilhelm Martens Ideen und Plänen in den Jahren 1910 bis 1912 der Holunderweg mit seinen vielen ähnlichen, aber nicht baugleichen Villen als ein harmonisches Ganzes. Wer einmal die Straße entlangspaziert und sich die Häuser anschaut, wird viele kleine interessante Details entdecken, die den Häusern trotz des gleichen Bauprinzips viel Individualität verleihen. Wilhelm Martens konnte aber auch Häuser in ganz anderem Stil bauen lassen. Auch das Mehrfamilienhaus am Brödermannsweg 60-66, das an den Baustil von Fritz Schumacher erinnert, stammt aus seiner Feder.

Auch auf anderem Gebiet war Wilhelm Martens weitsichtig und seiner Zeit voraus. Groß Borstel, zuvor seit 1830 Teil der Landherrenschaft der Geestlande, wurde erst 1913 nach Hamburg eingemeindet. Bis dahin gab es auch keinen Anschluss an das Netz der Hamburger Elektrizitätswerke, also keinen Strom, kein elektrisches Licht in den Häusern und auch nicht am Straßenrand. Mit einer Ausnahme: Wilhelm Martens hatte schon 1911 auf seinem Grundstück eine sogenannte Blockstation errichtet, ein kleines privates E-Werk. Solche Stationen mit nur geringer Versorgungsreichweite wurden von Privatleuten oder Gewerbebetrieben zur Stromerzeugung für den Eigenbedarf in Deutschland bereits seit den 1880er-Jahren genutzt. Mit dem Strom aus seinem privaten E-Werk versorgte Wilhelm Martens auch die Häuser im Holunderweg und im Schulweg. Bei schlechtem Wetter fiel der Strom auch schon mal aus, und bei Gewitter wurde der Generator generell abgeschaltet.

Nicht alle, aber die meisten der Villen am Holunderweg haben die Zeit überdauert. Das alte Reetdachhaus an der Ecke Schulweg/Holunderweg wurde im Zweiten Weltkrieg durch eine Brandbombe zerstört. Das Mehrfamilienhaus Brödermannsweg 60-66 wurde ebenfalls zerstört, aber nach den alten Plänen wieder aufgebaut. Das Haus der Familie Martens am Brödermannsweg 92 existiert nicht mehr und wurde durch eine neue Villa ersetzt. Familie Martens war schon vor dem Zweiten Weltkrieg aus Groß Borstel nach Dreggers bei Bad Segeberg weggezogen.

Dieser Artikel fußt auf der Arbeit der im Dezember 2022 verstorbenen Kunsthistorikerin Dr. Birgit Pflugmacher. Sie hat die Lebensgeschichte von Wilhelm Martens und seiner Familie und mit ihren künstlerischen Leistungen sowie die Entstehungsgeschichte des Holunderwegs recherchiert und im zweiten Band der „Künstlerkolonie Groß Borstel“ niedergeschrieben. Das Buch enthält eine Reihe weiterer spannender Biografien von Groß Borsteler Künstlern und kann bei der Initiative Marcus und Dahl e.V. erworben werden – ein schöner Lesestoff für gemütliche Winterabende, bei dem man auch viel über die Geschichte unseres Ortes erfährt. Mail an: initiative@marcus-und-dahl.de

André Schulz