SUPERBLOCKS IN GROSS BORSTEL

Macht RISE zum Experiment für die Stadt!

Moderne Verkehrspolitik ist vielfach heute schon ein Anachronismus. Bereits im Planungsstadium zeigt sich dann, welche Fehler die Stadt und insbesondere die Wohnqualität beeinflussen werden. In Groß Borstel sehen wir, welche Folgen die fehlende ÖPNV-Anbindung des Tarpenbeker Ufers hat: Sämtliche Besucherparkplätze sind überbelegt, es wird falsch geparkt, wo es nur irgendwie geht.

Voller Optimismus sind die Bewohner in ihre neuen Wohnungen eingezogen, haben dann aber zum Beispiel gesehen, sie kriegen für ihr Kind keinen Platz in einer nahegelegenen Schule. Der Schulweg ist einige Kilometer weit, ebenso der Weg zum nächsten Supermarkt. Ein Auto muss her. Der Traum von der niedrigen Autoquote ist geplatzt, nicht nur in diesem Wohngebiet.
Gucken wir ins befreundete Langenhorn, dann sehen wir, wie Hamburger Verkehrspolitiker und Stadtentwickler sich die „Schöne neue Welt“ (Aldous Huxley, 1932) vorstellen. Am Ochsenzoll steht in voller Pracht der überdimensionierte Bau eines insolventen Autohauses (Auto Wichert) am alten Ortskern, daneben Wohnraum mit prekärer Ladenzeile an einer extrem befahrenen, vierspurigen Straße, die die Autofahrer wahlweise kreuzungsfrei durch einen Tunnel von Norderstedt nach Hamburg lockt. Radfahrer und Fußgänger wurden an die Seite gedrängt – parallel zum überlauten Verkehrsgeschehen. 60er-Jahre-Horror in Reinkultur.

In einem der Superblocks in Barcelona

Dabei wird international sehr lange schon diskutiert, wie man den täglichen Verkehrskollaps vermeiden kann. Die Konzepte sind einfach und preiswert. Barcelona fing 2008 an, ein revolutionäres Verkehrskonzept umzusetzen, und zwar mit den sogenannten Super Illies – den Superinseln, in Stadtplanerkreisen auch Superblocks genannt. Mehrere Wohnblocks eines Wohnquartiers werden konsequent vom Autoverkehr freigehalten, Fußgänger, Radfahrer bewegen sich innerhalb des Blocks ungestört. Lieferverkehr muss bis 9.30 Uhr erledigt sein, dann versperren automatische Poller die Zufahrt bzw. die Ausfahrt. Innerhalb der Blocks ist Tempo 10 als Höchstgeschwindigkeit vorgeschrieben.

Anfangs gab es eine lange Liste von skeptischen Einwendungen. Allen voran: Die Umsätze des Einzelhandels würden drastisch zurückgehen, Arbeitsplätze seien in Gefahr. Gehbehinderte könnten ihre Wohnungen nicht erreichen und so weiter.

Die Praxis lehrte dann: Das Gegenteil ist der Fall. Die Umsätze der Einzelhändler stiegen deutlich an. Viele kleine Läden konnten wieder für neue und interessante Geschäfte vermietet werden. Die verbesserte Aufenthaltsqualität lockte mehr Bewohner in die Viertel. Und Menschen mit Handicap bekamen natürlich Zugang zu ihren Wohnungen und für Arztbesuche. Nur eben mit Tempo 10. Heute beschwert sich niemand mehr über die Superblocks. Die zuvor katastrophal abgasbelastete Luft ist um Klassen besser geworden. Auf den Straßen machen sich Cafés breit, Grünanlagen erobern die Superblocks. Jetzt wollen alle, dass auch Ihre Blocks zu Superblocks zusammengefasst werden.

Das Modell machte Schule. Zuerst in den Niederlanden, später in Frankreich. In Paris ersann Bürgermeisterin Anne Hildalgo die Stadt der 15 Minuten. Sie meint, „Städte brauchen dörfliche Qualitäten. Autos sollen vielerorts weichen – zum Wohl der Menschen“. Rund um den Montmartre schlendern Menschen über die Fahrbahnen. Die Autos sind weg. Parkplätze gibt es dort nicht mehr. 650 km Radwege werden geplant. Alles, was man braucht, soll innerhalb von 15 Minuten erreichbar sein. Ohne Auto.
Denn gerade in den Großstädten offenbart sich überdeutlich, dass die mit der Entwicklung des Autoverkehrs einhergehenden Probleme bisher vernachlässigt wurden.

Hidalgo reagierte auf eine Studie der Europäischen Umweltagentur, nach der die beiden Faktoren Lärm und Luftverschmutzung die größten Bedrohungen für die Gesundheit der Einwohner der Europäischen Union sind. Mehr als 400.000 Menschen sterben demnach jährlich an den Folgen von Luftverschmutzung unter anderem infolge des Verkehrs, und die Lärmbelastung verursacht rund 12.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr.
In Berlin, Köln und nun sogar im benachbarten Eimsbüttel versucht man ebenfalls, die Quartiere für die Menschen zurückzuerobern. Quartiere für Menschen, so heißt auch das Modellprojekt, das der Fahrradclub ADFC für das dicht besiedelte Eimsbüttel entwickelt und vorgeschlagen hat. Menschen treffen sich wieder auf der Straße. Stühle, Tische, Bänke, Sonnenschirme werden aufgestellt. Fußgänger und Radfahrer haben Vorrang. Autos müssen draußen bleiben. Nur der ÖPNV darf durch. Aber langsam!

Neue Straßennutzung in den Superblocks in Barcelona

Verkehrspolitik in Groß Borstel hieß bisher: Der Autoverkehr darf nicht behindert werden. Staut es sich in der Borsteler Chaussee, dann mäandern die Fahrzeuge eben durchs Klotzenmoor, über die Köppenstraße, am Moorweg vorbei oder durch den Lokstedter Damm bzw. die Brückwiesenstraße. Teilweise extrem unter Zeitdruck werden die Geschwindigkeitsbegrenzungen in den Wohngebieten missachtet. Die – mittlerweile veraltete – Maxime der Verkehrspolitiker heißt: Verkehrsmengenbewältigung.

RISE, das Stadtteilentwicklungsprogramm für Groß Borstel, könnte den Durchgangsverkehr über die Hauptverkehrsstraßen umleiten. Es kostet nicht viel, bringt aber Lebensqualität in den Stadtteil. Das Nedderfeld ist und bleibt die Alternative zur Borsteler Chaussee, wenn bei uns die Verkehrsmenge radikal reduziert wird. Natürlich würden sich viele Geschäftsleute melden und von Umsatzrückgängen und Arbeitsplätzen reden. Das sind die bekannten Argumente. Andererseits gäbe es mehr Passanten, die sich zu Fuß in Groß Borstel auf den Weg machen und ihre Einkäufe mit Hackenporsche statt Pkw erledigen. Oder die sich gesundheitsfördernd aufs Fahrrad schwingen.

Fotos | Ajuntament Barcelona

Kürzlich brachte ein freundlicher Groß Borsteler einige alte Exemplare des Borsteler Boten, zwei aus dem Jahre 1954. Herzlichen Dank dafür! Wenn man den alten Boten durchblättert, sieht man bereits auf den ersten Seiten an den Anzeigen, wie lebendig der Stadtteil damals gewesen sein muss.

Eine Kreuzung in Barcelona, die, statt dem Durchgangsverkehr zu dienen, jetzt eine Multifunktionsfläche für die Anwohner ist.

Es gab eine Konditorei, einen Glaser, der Bilder und Spiegel verkaufte. Die Hamburger Sparkasse wirbt, ein Schuhgeschäft verkauft in der Borsteler Chaussee 117. Ein Haus weiter Schneidermeister Adalbert Malec; Marianne Uhrlau gab Klavierunterricht, im Nirrnheimweg wurden Krugs Liköre angeboten. Der Fahrschulkurs im Lokstedter Damm bei Albert Hansen kostete 153 DM (10 Fahrstunden) inklusive der amtlichen Gebühren. Radio Peters bot in der Borsteler Chaussee 103 neben Radios auch Schallplatten, Fernsehgeräte, Elektroherde, Kühlschränke und Staubsauger an. Und das nur auf den ersten Seiten! Autoverkehr spielte damals kaum eine Rolle in Groß Borstel. Wenn man in die Stadt musste, nahm man die Straßenbahn – die Linie 18. In Groß Borstel schlenderte man lieber von Geschäft zu Geschäft und guckte sich an den Schaufenstern die Nase platt, der ungehemmte Konsum kam später.

Aber können wir die Zeit nicht ein klein wenig zurückdrehen? Bilden wir doch einfach Quartiere für Menschen in Groß Borstel, die vom Durchgangsverkehr befreit werden. Man kann mit dem Auto reinfahren, aber nicht durchfahren. Nur die Busse fahren langsam durch die Borsteler Chaussee oder den Warnckesweg. Jeder, der von Pinneberg zur City Nord will, muss den – kleinen – Umweg über das Nedderfeld nehmen.

Schlagartig wäre es wieder ruhig in Groß Borstel. Die Borsteler Chaussee könnte zum Boulevard ausgebaut werden. Und in den Wohnstraßen spielten die Kinder. Was meinen Sie, ist das wirklich so unrealistisch? Schreiben Sie uns: redaktion@borsteler-bote.de.

Uwe Schröder