Mustergültiger Sozialer Wohnungsbau: Die Siedlung Beerboomstücken

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in den zerstörten deutschen Städten große Wohnungsnot, auch in Hamburg. In Groß Borstel war die Bevölkerung von knapp 5.000 Menschen im Jahr 1939 durch Flüchtlinge und ausgebombte Hamburger auf über 16.000 Menschen im Jahr 1951 angewachsen. Viele Menschen lebten Anfang der 1950er-Jahre noch in Notbehelfswohnungen. Der Neubau von Wohnungen war also dringend geboten, und so entstanden in den 1950er-Jahren in Groß Borstel mehrere Siedlungen, die den Charakter des Ortsteils nachhaltig veränderten. Neue Siedlungen wurden in jenen Jahren am Stutzenkamp/Weg beim Jäger, am Brödermannsweg, an der Brückwiesenstraße, am Warnckesweg, an der Borsteler Chaussee/Stavenhagenstraße, an der Koldeweystraße und am Beerboomstücken gebaut. Besonders die Siedlung am Beerboomstücken galt nach ihrer Fertigstellung als mustergültige Siedlungsanlage des sozialen Wohnungsbaus.

Siedlung Beerboomstücken © Uwe Schröder
Siedlung Beerboomstücken © Uwe Schröder
Siedlung Beerboomstücken © Uwe Schröder

Die Pläne für die Siedlung hatte der Architekt Werner Kallmorgen (1902-1979) im Auftrag der städtischen Hamburger Wohnungsbaugesellschaft SAGA (Siedlungs-Aktiengesellschaft Altona) erstellt. Kallmorgen stammte aus Altona und absolvierte von 1919 bis 1924 an der TU Berlin ein Bauingenieur- und Architekturstudium. Zwei Jahre arbeitete er beim Stadtbaurat von Altona, Gustav Oelsner, bevor er sich als Architekt in Altona selbstständig machte. Kallmorgen war nach dem Krieg an zahlreichen Großprojekten beteiligt. Vor dem Bau der Siedlung Beerboomstücken in Groß Borstel hatte er sich unter anderem mit seinen Entwürfen am Wiederaufbau des Stadttheaters Kiel, am Wiederaufbau des Opernhauses Hannover des Gebäudes der Hamburger Bank von 1861 (Volksbank) in der Hamburg-Altstadt (Alstertor 9/ Raboisen 86) und am Wiederaufbau des Hamburger Thalia-Theaters beteiligt. Das Haus hatte 1912 ursprünglich Werner Kallmorgens Vater Georg entworfen. Werner Kallmorgen konnte aber auch kleinere Gebäude bauen, zum Beispiel 1948 den Bücherpavillon der Bücherstube Stolterfoht an der Rothenbaumchaussee 100.

Kallmorgens bedeutendste Gebäude entstanden in den 1960er Jahren, darunter das Allgemeine Krankenhaus Altona, das Albertinen-Krankenhaus in Hamburg-Schnelsen, das Otto-Versandhaus in Hamburg-Bramfeld, das IBM-Hochhaus und das Spiegel-Hochhaus an der Ost-West-Straße, heute Willy-Brandt-Straße beziehungsweise Ludwig-Erhardt-Straße, außerdem das Ernst Barlach Haus im Jenischpark.

Siedlung Beerboomstücken © Uwe Schröder
Siedlung Beerboomstücken © Uwe Schröder

Seit 1945 war Werner Kallmorgen auch mit einigen Um- und Ergänzungsbauten an der Neugestaltung der Speicherstadt beteiligt. Bis 2003 war die Speicherstadt als Zollausland für die meisten Hamburger gar nicht zugänglich. Gut sichtbar war aber der von Werner Kallmorgen entworfene Neubau des Kaispeichers A am Rande der Speicherstadt am Kaiserhöft. Heute dient dieser Speicher als Sockel für die Elbphilharmonie.

1977 erhielt Werner Kallmorgen den Fritz-Schumacher-Preis. In der Laudatio wurden Kallmorgens Verdienste für den sozialen Wohnungsbau hervorgehoben und besonders auf die 1955 fertiggestellte Groß Borsteler Siedlung am Beerboomstücken verwiesen. Die Siedlung entstand mit einer Anzahl von Reihen-und Laubenganghäusern und zwei fünfgeschossigen Punkthäusern an den beiden Enden der Fläche, am Klotzenmoor und an der Borsteler Chaussee mit insgesamt 444 Wohneinheiten und vielen Grünflächen dazwischen. In der Siedlung steht auch der Jugendclub Groß Borstel, eine kommunale Einrichtung für Kinder und Jugendliche als Außenstelle des Hauses der Jugend Lattenkamp.

Was Mitte der 1950er-Jahre als mustergültig angesehen wurde, war 50 Jahre später nicht mehr zeitgemäß. Kohleöfen und primitive Bäder entsprachen Anfang 2000 nicht mehr den Ansprüchen. In einigen Häusern waren die Kellerräume schwarz vor Schimmel. Im Laufe der Jahre war auch die soziale Zusammensetzung in der Siedlung in Schieflage geraten.

Anfang der 2000er-Jahre begann die SAGA sukzessive mit der dringend notwendigen Sanierung der Wohnungen und Häuser. Viel Rücksicht auf die Mieter nahm die SAGA bei der Sanierung jedoch nicht. Die Bewohner wurden über die einzelnen Maßnahmen nicht rechtzeitig informiert und es gab zahlreiche Pannen. Durch technische Defekte und Frost kam es zu langen Verzögerungen. Einige Mieter mussten im Winter sogar tagelang ohne Fenster auskommen. Viele Bewohner lebten über Monate wie auf einer Baustelle, teils mit feuchten Wänden oder über Wochen ohne Strom, ohne Wasser und ohne Toilette, berichtete die Presse damals.

Siedlung Beerboomstücken © Uwe Schröder
Siedlung Beerboomstücken © Uwe Schröder

Bis 2004 wurden mit einem finanziellen Aufwand von 5,8 Millionen Euro zunächst 156 Wohnungen saniert, in den folgenden Jahren die übrigen Häuser und Wohnungen. Die Modernisierung war allerdings umfangreich. Die Keller wurden abgedichtet, Drainagen gelegt, Kellerfenster, Lichtschächte und Wasseranschlüsse erneuert. Die Holzfenster wurden durch isoverglaste Kunststofffenster ersetzt und vieles mehr. Die Mieter konnten wählen, ob in ihren Wohnungen Heizungen eingebaut und die Bäder erneuert werden sollten. Ja, nach Umfang der Modernisierung stiegen die Mieten von 4,30 Euro pro qm auf damals maximal 8 Euro pro qm. 2013 war die Sanierung sämtlicher Reihenhäuser und Wohnungen abgeschlossen. Obwohl mit etwa 55 qm recht klein, war die Nachfrage nach den sanierten und schicken Reihenhäusern mit Gärten nun sehr groß.

Zwischen der Siedlung Beerboomstücken und den Häusern am Spreenende und der Steinblockstraße befindet sich zudem ein Kuriosum, eine große wilde Grünfläche, die für eine vor 40 Jahren einmal geplante Südzufahrt zum Flughafen freigehalten wurde. Die Straße wurde nie gebaut, aber eine Änderung des Bebauungsplans scheiterte zur Freude der ortsansässigen Hunde und ihrer Besitzer bisher an bürokratischen Hürden.

Die Nachfrage nach Wohnungen mit bezahlbaren Mieten ist auch heute wieder sehr groß. Während aber vor gut 70 Jahren die Notwendigkeit das Gesetz des Handelns bestimmte, sind es heute teure Auflagen, langwierige komplizierte Genehmigungswege und hohe Zinsen. Bauen ist inzwischen selbst für Genossenschaften viel zu teuer geworden und kann nur noch durch hohe Mieten oder den Verkauf von teuren Eigentumswohnungen gegenfinanziert werden. Der soziale Wohnungsbau ist in einer schweren Krise.

André Schulz

Foto: Uwe Schröder