HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN

KULTURKAMPF AM LICENTIATENBERG

Vor etwa 4500 Jahren, beim Übergang von der Steinzeit zur Bronzezeit, entstand der Brauch, die Toten unter Grabhügeln zu bestatten. Solche Grabhügel oder auch Hügelgräber gab es überall auf der Welt. In Europa waren sie aber in verschiedenen Formen in großer Zahl besonders weit verbreitet. In einigen Gegenden Nordeuropas zählte man Tausende solcher Gräber. Auf dem heutigen Stadtgebiet von Hamburg gab es einst etwa 250 Hügelgräber.

Die meisten dieser Grabanlagen wurden im Zuge der Ausdehnung Hamburgs allerdings eingeebnet und sind nun verschwunden. Auch auf dem Gebiet von Groß Borstel existierten einige Grabhügel, immerhin 19 an der Zahl. Davon sind heute noch vier erkennbar und als Denkmäler in der Denkmalliste eingetragen. Dies sind der Frustberg an der Frustbergstraße/ Ecke Schrödersweg, ein Grabhügel am Niendorfer Weg, der Häselberg in der Kleingartenkolonie am Paeplowweg und als bekanntester Grabhügel in Großborstel der Licentiatenberg am Weg beim Jäger. Der Häselberg war Teil einer Gruppe von 13 Gräbern oberhalb der Alsterauen. 1953 wurden hier sogar Ausgrabungen vorgenommen. Man fand eine Steinumfassung in der Mitte des Häselberges, aber keine Überreste von bestatteten Personen und auch keine Grabbeigaben.

Der Licentiatenberg gehört zu den größeren Grabhügeln und ist auch heute noch gut erkennbar. Topographische Karten weisen eine Höhe von 22 Metern aus. Bis ins 18. Jahrhundert hieß der Hügel noch Jungfrauenberg, erst dann wurde der Name Licentiatenberg gebräuchlich.

Für den heutigen Namen gibt es verschiedene Erklärungsansätze. So könnte der Name sich vom lateinischen „Licentia“ ableiten, wobei die Lizenz zur Rechtsprechung gemeint ist.

Die Groß Borsteler Vögte haben wahrscheinlich dieses Recht besessen. Unweit des Licentiatenberges gibt es die Gaststätte mit dem Namen „Drei Eichen“. Der Name verweist auf eine Baumgruppe, die es in der Nähe wohl einmal gegeben hat. Die Germanen hielten ihre Gemeinde- oder Stammesversammlungen, Thing genannt, nach festen Regeln unter freiem Himmel ab und wählten dafür oft einen erhöhten weithin sichtbaren Platz. Die Rechtsprechung fand aus kultischen Gründen unter einem oder besser mehreren hohen Bäumen statt, gerne Eichen oder Linden. Vielleicht diente der Licentiatenberg ja den Altborstelern einmal als Thingplatz.

Die Kollauer Chronik (von Adolph Hansen und Rudolf Sottorf aus dem Jahr 1922) bietet eine andere Deutung des Namens. Groß Borstel befand sich lange im Besitz des Harvestehuder Zistersienserklosters. 1529 ging dieses im Zuge der Reformation in das evangelische St.-Johannis-Kloster in Eppendorf über. Die Nonnen des Klosters unternahmen gerne Ausflüge zum Grabhügel nach Groß Borstel, weshalb dieser wohl auch Jungfrauenberg genannt wurde.

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts soll eine der Nonnen des Klosters hier heimlich einen Licentiaten, einen Gelehrten, getroffen haben. Der melancholisch veranlagte Akademiker habe sich dann aber, vielleicht aus unerfüllter Liebe, an einer der Linden auf dem Berg erhängt. Der Name Licentiatenberg erinnere an dieses Ereignis.

Es ist aber als dritte Erklärung ebenfalls möglich, dass der Name vom Licentiatenberg in Harvestehude, benannt nach dem Licentiaten und Dichter Friedrich von Hagedorn (1708-1754), recht profan auch auf den Hügel in Groß Borstel übertragen wurde. Beide Hügel waren den Hamburger Bürgern gleichermaßen ein beliebtes Ausflugsziel.

Licentiat und Dichter Friedrich von Hagedorn (1708-1754)

Nach der Reichsgründung und dem Preußisch-Französischen Krieg von 1870/71 wurde das junge Deutsche Reich vom preußischen Geiste des Militarismus ergriffen. Auch in Groß Borstel war Militär stationiert und an den beiden Enden der Borsteler Chaussee gab es jeweils einen Schießstand. Der verlorene Erste Weltkrieg brachte wohl Ernüchterung, aber kein grundsätzliches Umdenken. Schon nach dem Krieg von 1870/71 war es üblich geworden, zu Ehren der Gefallenen Kriegerdenkmäler zu errichten. So fasste man 1919 auch in Groß Borstel den Gedanken an ein Denkmal zur Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Groß Borsteler Bürger. Federführend war der Kommunalverein, der zur Realisierung des Projekts 83.000 Mark sammelte und über die Gestaltung des Denkmals mit Hilfe eines Wettbewerbs entschied.

Als Aufstellungsort wurde der Licentiatenberg gewählt. Möglicherweise wollte man den Hügel mit dem Denkmal etwas aufhübschen, denn die Sandkuhle am Fuße des Licentiatenbergs wurde zum Verdruss der „Kommunalen“ schon seit Jahren als illegale Mülldeponie missbraucht. Das Denkmal konnte noch rechtzeitig vor Beginn der Hyperinflation fertig gestellt werden und wurde am 27. August 1922 feierlich eingeweiht.

Es bestand aus einem dreistufigen und 1,70 Meter hohen Würfel aus Klinkersteinen, an dem eine Metalltafel mit den Namen der Gefallenen angebracht war. Auf dem Würfel thronte ein Adler, der auf einer steinernen Kugel saß. Gedenktafel und Adler, beides aus Gusseisen, hatte der Bildhauer Richard Kuöhls angefertigt, von dem auch das Denkmal für das Infanterieregiment 76, 1936 aufgestellt, am Dammtorbahnhof stammt.

Der Eisenadler auf der Steinkuge

Das Bauwerk auf dem Licentiatenberg überstand die folgenden ereignisreichen Jahre einigermaßen unbeschadet. 1954 brachte der Kommunalverein eine weitere Bronzetafel zu Ehren der Gefallenen des Zweiten Weltkrieges an und bis in die 1970er Jahre diente das Denkmal als Kulisse für Gedenkfeiern zu Ehren der Gestorbenen am Volkstrauertag. Dann endete dieser Brauch.

Nach ausländerfeindlichen Übergriffen in Deutschland Anfang der 1990er Jahre bildete sich in Deutschland eine Reihe von Initiativen „gegen Rechts“, und in Groß Borstel entstand die Idee, das Denkmal am Licentiatenberg mit einem „Nachdenkmal“ kritisch zu hinterfragen. Der Förderverein „Nachdenkmal Groß Borstel“ sammelte Geld und beauftragte den Künstler Gerd Stange mit der Realisierung. Sein Entwurf bestand aus einem nachempfundenen Schützengraben, mit Stacheldraht versehen, der am Fuße des Licentiatenberges gut sichtbar eingegraben werden sollte.

Die Installation polarisierte und wurde schon im Entwurfsstadium auf verschiedenen Ebenen kontrovers diskutiert, im Kommunalverein, im Ort, sogar im Hamburger Senat. Das Kunstprojekt wurde zum Politikum. Es gab Befürworter, aber auch großen Widerstand. Nach langem hin und her wurden schließlich die öffentlichen Fördermittel freigegeben und der Bau 1999 in Angriff genommen.

Die Einweihung der fertig gestellten Installation fand am 8. Mai 1999 statt. Zuvor hatte es von Gegnern allerdings sogar Bombendrohungen gegeben. Es war die Zeit, als die NATO mit Unterstützung der Bundeswehr in den Kosovo-Krieg eingriff. Die Beteiligung Deutschlands an einem Krieg heizte den Protest gegen den Schützengraben am Licentiatenberg noch einmal an. Vielen Anwohnern war die Installation wohl zu realistisch. Schon während der Baumaßnahmen hatten Gegner der Installation ihrem Protest auch mit hineingeworfenen Müllsäcken und verschmutzten Windeln Ausdruck gegeben. Dies setzte sich auch nach Fertigstellung praktisch jeden Tag fort. Nach und nach ebbte der Protest dann aber doch ab.

„Eingang“ in den Schützengraben mit der Blickachse zum Kriegerdenkmal

2003 wurde jedoch das ursprüngliche Kriegerdenkmal mit dem Adler, auch infolge von Vandalismus, baufällig. Es entwickelte sich nun eine neue Diskussion um die Zukunft des Denkmals. Sollte es bewahrt oder abgetragen werden? Schließlich entschied man es abzutragen. Da ohne das ursprüngliche Kriegerdenkmal das Nachdenkmal sinnlos geworden war, wurde auch dieses abgebaut und der Hügel in den ursprünglichen Zustand versetzt.

Wer sich näher für die Geschichte des Licentiatenbergs, des Kriegerdenkmals und der Diskussion um das Nachdenkmal interessiert, findet in Hakim Raffats Veröffentlichung im Stadtteilarchiv Eppendorf: „Grabhügel, Kriegerdenkmal, Nachdenkmal“, eine ganz ausgezeichnete Dokumentation.
André Schulz

BUs:
Licentiat und Dichter Friedrich von Hagedorn (1708-1754)

Der Eisenadler auf der Steinkugel

„Eingang“ in den Schützengraben mit der Blickachse zum Kriegerdenkmal