HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN

Das Haus am Ende der Borsteler Chaussee

Ganz am Ende der Borsteler Chaussee, hinter dem Senioren-Wohnheim, geht die feste Bebauung allmählich in einige Kleingartenanlagen über. Die Borsteler Chaussee endet in Kopfsteinpflaster und einer Kehre. Doch hinter der Lufthansa-Sportanlage steht noch in einem großen Garten ein einzelnes Haus, mit der Hausnummer 361.

Es erinnert mit seinem Baustil ein wenig an einen alten Bahnhof und ein an der Hauswand angebrachtes „DB“-Schild weist auch in diese Richtung. Tatsächlich gab es einmal Pläne, die Bahnstrecke der Güterumgehungsbahn vom Nedderfeld mit dem Flughafen zu verbinden. Doch diese Pläne wurden nie realisiert und das letzte Haus an der Borsteler Chaussee steht mit dieser Idee in keinem Zusammenhang. Das Haus Nummer 361 hat eine ganz andere Geschichte.

Die Vorgeschichte beginnt im Jahr 1866/67. Nach dem Beitritt zum Norddeutschen Bund gaben Hamburg und die anderen Stadtstaaten ihre Wehrhoheit an Preußen ab. Hamburg wurde Standort des 2. Hanseatischen Infanterie-Regiments Nr. 76. Bald danach, 1870, zog das Regiment in den Krieg gegen Frankreich. Am 17. Juni 1871 kehrten die Soldaten aus dem Krieg zurück und wurden mit einem Festakt auf dem Rathausmarkt empfangen. Einen Monat später, am 15. Juli 1871, konnten die Bataillone auch ihre neue große Kaserne an der Bundesstraße zwischen Louisenstraße und Papendamm beziehen. Gesamtkosten für den Bau der Kasernenanlage damals: 860.000 Mark. Im Hof der Gebäude befand sich ein großer Übungs- und Exerzierplatz. Ihre Schießübungen absolvierten die Musketiere und Füsiliere aber in Groß Borstel. Am Rande des Hamburger Stadtgebietes, im Eppendorfer Moor, gleich neben der Alsterkrugchaussee, befand sich ein Schießplatz. Der Straßenname Kugelfang auf der anderen Seite der Alsterkrugchaussee erinnert noch an den alten Standort.

Als noch Pickelhauben das Denken beeinflussten …
… wurde die (ehemalige) Kaserne in der Bundesstraße gebaut.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich Groß Borstel vom Dorf am Nord-Westrand Hamburgs in einen beliebten Ausflugsort. Die 1891 eröffnete Rennbahn hinter dem Borsteler Jäger beschleunigte die Entwicklung. Der Schießplatz am Ortseingang passte wohl nicht mehr ins heitere Gesamtbild.

Bisweilen soll eine verirrte Kugel auch mal in die Wand eines Wohnhauses eingeschlagen sein. 1902/03 wurde am anderen Ende der Borsteler Chaussee im Borsteler Moor ein neuer Schießstand gebaut. Das war nicht billig, denn der sumpfige Boden musste erst noch aufwändig entwässert werden. Schließlich entstanden hier sechs neue Schießbahnen, drei mit 300 Metern Länge, zwei mit 400 Metern Länge und eine mit 600 Metern Länge. Zur Anlage gehörte außerdem ein Mannschafts-Casino, ein Toilettenhaus, ein Pferdestall, ein Wachhaus und ein Wohnhaus für den Schießplatz-Kommandanten im Rang eines Unteroffiziers, mit seiner Familie. Der Bau der ganzen Anlage kostete 280.000 Mark.

Gegen Lagerkoller hilft die Lagerküche
Auf diesem Messtischblatt aus dem Jahre 1944 ist der Schießstand mit seinen unterschiedlich langen Bahnen detailiert zu sehen.

1914 zog das Regiment erneut in den Krieg. In den Schlachten an der Somme, um Arras und Flandern wurde die 3000 Mann starke Einheit des Krieges weitgehend aufgerieben. Nur knapp 450 Männer überlebten den Krieg.

Nach dem Krieg wurde das Regiment im Zuge des Versailler Vertrages demobilisiert. Dem Deutschen Reich war nur noch eine Armee mit höchstens 100.000 Mann erlaubt. Hamburg blieb deshalb bis zur Wiederaufrüstung 1937 weitgehend ohne Militärpräsenz. Der Schießstand bestand aber offenbar weiter. In den 1930er Jahren übernahm hier Willi Fleischer das Kommando.

Im Curiohaus fanden in der Nachkriegszeit Gerichtsprozesse gegen Kriegsverbrecher fanden statt.

Im Zweiten Weltkrieg führten die Hamburger Kriegsgerichte unzählige Prozesse durch und sprachen dabei über 200 Todesurteile aus, zumeist wegen Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht. Die Hinrichtungen wurden im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis und am Standortschießplatz Höltigbaum in Rahlstedt vollzogen. Für den Vollzug von Todesurteilen am Schießstand in Groß Borstel konnten bisher keine Belege gefunden werden.

Nach dem Ende des Krieges klagte die britische Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 in den so genannten Curiohaus-Prozessen etwa 500 Kriegsverbrecher an, Täter der Konzentrationslager Neuengamme und Ravensbrück, die Produzenten von Zyklon B und weitere Kriegsverbrecher. Es wurden insgesamt 102 Todesurteile ausgesprochen und 267 Haftstrafen verhängt. Einige dieser Todesurteile wurden auch auf dem Schießplatz am Ende der Borsteler Chaussee vollzogen. So wurden hier am 30. November 1945 Kapitänleutnant Heinz Eck, Leutnant zur See Hoffmann und der Marine-Oberstabsarzt Weispfenning hingerichtet. Sie wurden als Besatzungsmitglieder des U-Bootes U-852 für die Versenkung von bemannten Rettungsbooten nach der Versenkung des Frachters „Peleus“ verantwortlich gemacht.

Das Haus am Ende der Borsteler Chaussee
Auch Nebengebäude blieben erhalten und werden heute noch genutzt.

Nach dem Krieg war das einstige Wohnhaus des Schießplatz-Kommandanten weiterhin von Willi Fleischer mit seiner Familie bewohnt, auch wenn er seine Funktion als Kommandant nicht mehr ausübte. Im Laufe der Jahre wurden die Anlagen und Gebäude des Schießplatzes nach und nach demontiert. Zuerst verschwanden die Schießbahnen, vermutlich schon im Zuge des ersten Flughafenausbaus Ende 1948/49. In den 1970er Jahren wurden der Pferdestall und ein Mannschaftsgebäude abgerissen. Das Wohnhaus des Kommandanten sollte schon 1955 abgerissen werden, blieb aber stehen.

Das Haus mit der Nummer 361 besteht eigentlich aus zwei Teilen. Im vorderen Teil befand sich ein Mannschaftsraum für das Personal des Wachhäuschens am Eingang der Anlage. Im hinteren Teil des Hauses, ebenfalls im Erdgeschoss, die Wohnung des Kommandanten. Das Dachgeschoss wurde als Lagerraum für Heizkohlen genutzt. Diese konnten über eine Luke mit einem Kran ins Dach gezogen werden. Gleich hinter dem ehemaligen Kommandantenhaus blieb noch ein zweites Gebäude bis heute stehen. Das ehemalige Toilettenhaus des Schießstandes wird heute als Gartenlaube genutzt.

Willi Fleischer hatte nach dem Krieg seinen Neffen Udo Evers, der Waise geworden war, als Sohn angenommen. Nach dem Tod seiner Pflegeeltern übernahm Udo Evers 1972 das Haus und zog hier mit seiner Frau Heide ein.

Udo Evers arbeitete bei der Bahn und verzierte das Haus deshalb unter anderem auch mit einem DB-Schild. Seine Frau Heide arbeitete als Krankenschwester. Ihre Familie stammt aus Namibia, früher Deutsch-Südwestafrika. Aber das ist eine andere Geschichte.

Andrè Schulz

Vom Schießstand ist nichts mehr zu sehen, die Natur ist zurück