Erst zum Friseur, dann zum Bäcker.

Erst zum Friseur, dann zum Bäcker. Glosse
Wenn es nur so einfach wäre. Früher, als die Frisur noch voll war und die sechziger Jahre nicht zu Ende, glich der Gang zum Friseur einer Art Harakiri. Sie wissen schon, das ist die rituelle Selbsttötung der Samurai. Sie ist in Japan Mitte des 12. Jahrhunderts aufgekommen, wurde zunächst Seppuku genannt, ebendort – weil es um sich griff – seit 1868 allerdings strengstens verboten und kurioserweise gelegentlich mit dem Tode bestraft. Mit einem erfolgreichen Seppuku konnte ein Mann, der sein Gesicht verloren hatte, die Ehre seiner Familie wiederherstellen.

Seit 1868 also verboten und dann umfirmiert in Harakiri. In den sechziger Jahren, etwa 100 Jahre später und in Hamburg, war das für mich der Gang zum Friseur: Harakiri in feinster Form. Eine spezielle Art der Persönlichkeitsveränderung, allerdings die grausame Art des Gesichtsverlusts. Folge: Freunde erkannten dich nicht wieder, gingen stur geradeaus an dir vorbei, oder schlimmer: Sie wechselten abrupt die Straßenseite.

Nach Vollendung des Haupthaar-Harakiris schreitet das Tatopfer verunsichert aus dem Friseurladen. Verschwunden war die prachtvolle Beatles-Mähne oder später die Howard-Carpendale-Föhnwelle, heraus kam ein schmaler Jüngling mit einem Top, wie aus der Fit- oder Brisk-Reklame entsprungen (Produkte, die Hamburger Ureinwohner benutzten, um mit einer Art Fett eine möglichst stromlinienförmige Frisur zu formen). Der Anblick erfreute die Herrenfriseure, die dem betrübten Jüngling triumphierend hinterherblickten – sahen sie doch die Zukunft ihrer Zunft durch Beatlesfrisuren bedroht.

Eine Zeit lang versuchten die Friseure sich noch zu wehren. Sie guillotinierten das Übel mit gerademal zwei ihrer Produkte – mehr Frisuren gab es nicht im Sortiment für Herren: Kurz-ab oder Rundschnitt. Kurz-ab nannten sie die „Frisur“ mit dem bis über Oberkante Ohren ausrasierten Nacken. „Rundschnitt“ ging hinten immerhin bis an die Unterkante der Ohren (weiträumig freigeschnitten), ohne dass stoppelig ausrasiert werden musste. Rundschnitt war bei den Jugendlichen natürlich beliebter.

Damals hießen die meisten Friseure übrigens einfach nur Friseur. So wie die Bäcker einfach Bäcker hießen. In den siebziger Jahren entdeckten die Friseure vor dem Hintergrund des Beatles-Schocks das Marketing. Sie machten verstärkt „auf modern“, kleideten sich verrückt und ersannen futuristische Firmennamen: Über den Läden stand nicht mehr nur Friseur und der Name des Meisters, dort prangte in neongreller Schrift ein Fantasiename, der im weitesten Sinne zwingend irgendetwas mit Haar zu tun haben musste: SaHaaRa etwa. Oder Hair-Reinspaziert. Oder kurz und knapp in reinem Denglisch: Kamm in. Im benachbarten Alsterdorf tummeln sich heute Fantasiefriseure namens Haarflüsterer oder Königskinder. Eppendorf hat an Kuriosem nicht nur den Cut-Club und Haircom zu bieten.

Irgendwann später muss sich der Erfolg dieser Marketingfriseure in der Bäckerei-Innung herumgesprochen haben. Die Bäcker nannten ihre Läden gleichfalls nicht nur mit der Berufsbezeichnung und dem Meisternamen, sondern erfanden Fantasiebezeichnungen. Backwahn, Backhus, Semmelbude. Nur Hier gibt es in Groß Borstel, aber bekanntlich nicht nur hier, sondern insgesamt über 100-mal, eigentlich also hier und da.

Die meisten Läden in Groß Borstel sind beim Firmennamen bodenständig geblieben. Friseur Heckroth etwa oder Andreas Friseurlädchen. Dass der Bäcker mit Namen Junge heißt und beim Bau neuer Filialen gerne verkündet, „Es wird ein Junge!“, das erkennt man schon von draußen. Der Borsteler Backshop von Manfred Stoltze musste sich übrigens umbenennen, weil es die Innung so wollte. Der Laden hieß zuerst Borstelbäcker und ist mit diesem schönen Namen immer noch den meisten bekannt.

Diese Bodenständigkeit liebe ich an Groß Borstel. Wenn ich also verschlafen am frühen Morgen zum Friseur will, sehe ich schon von außen: Das ist ein Friseur. Ich gehe nicht hinein und bestelle zwölf Dinkel-Roggen-Brötchen, sondern: Einmal kurz machen, fünf Millimeter. Und in den Bäckerladen stolpere ich auch nicht hinein und bestelle „Kurz-ab“ oder „Rundschnitt“, sondern ein Rundstück oder gleich ein ganzes Handwerkerfrühstück – bei Manni für 3.95. Mit einer Scheibe Extrawurst für Pippa, die Zwergschnauzerhündin, die mich begleitet.

Nein, denke ich, mehr Marketing für Groß Borstel brauchen wir nicht. Oder ist das hier jetzt etwa schon Marketing?
Uwe Schröder