EDITORIAL

Liebe Borsteler,
nun läuft das „normale“ Leben wieder an. Allerdings gaaanz langsam! Als erstes waren wieder mehr Autos auf den Straßen zu sehen. Wohl auch, weil viele Menschen noch unsicher sind, ob sie den Platz und die Luft in Bus und Bahn mit all den anderen Mitfahrern teilen wollen. Viele Radfahrer, natürlich, auch dank des schönen Wetters, das uns seit Wochen den Lockdown sehr erleichtert hat. So konnten wir – im Gegensatz zu den Menschen in Italien, Spanien und Frankreich – jederzeit raus für einen Spaziergang, für Sport draußen, allein oder zu zweit, für Gassi gehen und für Radtouren. Hätten wir in den letzten zwei Monaten den Dauerregen vom Februar gehabt, wäre alles noch viel härter gewesen.

Am stärksten persönlich betroffen waren die älteren Menschen in den Heimen, die plötzlich mit Kontaktsperre und Isolation von ihren Angehörigen fertig werden mussten und müssen. Und bei denen trotzdem die Ausbreitung und die Ansteckung mit dem Virus zum Teil gehäuft auftrat, weil der Fokus lange ausschließlich auf Schutzmaßnahmen für Krankenhaus- und Praxispersonal und nicht bei den Alters- und Pflegeheimen lag. Dieses Elend hat mich sehr betroffen gemacht.

Die zweite Gruppe, die persönlich stark unter den Folgen des Lockdowns gelitten hat und bis heute zum Teil weiter leidet, sind die Kinder und deren Eltern. Keine Schule, keine Kita seit Mitte März. Dafür Doppel- und Dreifachbelastung der Eltern im Homeoffice, Kinderbetreuung, Kinderbeschulung und zusätzlich mittägliches Kochen. Wenn es denn überall stattfindet.

Und über die weggesperrten Kinder wissen wir leider nicht, ob sie überhaupt gefährdet oder gefährlich sind. Und wenn ja, für wen. Das ist, bei allem Verständnis und auch Respekt für die Politik, die erstmals eine solche Pandemie händeln musste, doch recht traurig. Warum der Hamburger Senat das Angebot der UKE, 10 000 Kinder schon Anfang April 2020 zu testen, unterbunden hat, erschließt sich mir immer noch nicht.

Nun also Lockerungen fast überall. Der Staat setzt unsere Grundrechte Stück für Stück wieder in Kraft. Und damit verschiebt sich die Verantwortung wesentlich stärker auf jeden Einzelnen. Mit wie vielen Leuten treffe ich mich, traue ich mich wieder zum Friseur und zur Kosmetikerin, gehe ich mal ins Restaurant zum Essen, besuche ich die Großeltern wieder, plane ich einen Sommerurlaub? Und wenn ja: Ostsee oder Harz? Griechenland oder Dänemark? Ferienwohnung, Hotel oder Camping? Flugzeug, Bahn oder lieber doch das Auto – damit ich im Zweifel schnell nach Hause kann?

Oder lieber doch zu Hause bleiben? Wenn das Wetter so mitspielt, wie die letzten Wochen, haben wir es hier in Hamburg doch auch sehr schön! Und man darf nach und nach sicher wieder mehr ins Umland zu einem Ausflug starten.

Mit der individuellen Verantwortung gehen die Menschen in Deutschland und anderswo allerdings sehr unterschiedlich um. Liest man von den Fake News und Morddrohungen gegen Virologen im Internet und den Demonstrationen in vielen Städten, so hört man neben berechtigten Fragen zu Corona sehr viel Wut, Spaltung, Angst und Rechthaberei darüber, was „falsch“ gelaufen und entschieden wurde von Politik und Wissenschaftlern. Und das, trotz der Tatsache, dass wir in Deutschland im Verhältnis zu praktisch allen vergleichbaren Ländern bisher ausgesprochen glimpflich durch diese Krise gekommen sind. Aber das Besondere an Corona ist eben, dass es nicht nur bestimmte Gruppen von Menschen in bestimmten Gegenden der Welt gesundheitlich betrifft, wie es zum Beispiel mit HIV, Ebola oder SARS 1 war, sondern dass es uns alle, und somit unser globales Wirtschaftssystem, in Frage stellt. Und unseren sehr hohen Lebensstandard bedroht. Je mehr Angst vor materiellem Verlust besteht, umso erbitterter wird für die „richtige“ Sicht der Dinge gekämpft.

„Es gibt nur eine Wahrheit, doch leider verteilt in viele Köpfe“, las ich neulich irgendwo. Die (vermeintlich) wichtigste Frage, wer Recht hat, was dieses neue Virus und vor allem die erforderlichen Maßnahmen betrifft, ist noch nicht objektiv beantwortet.

Die Frage, die zählt, ist eher: Wie kommt es dazu, dass wir so unterschiedliche Perspektiven einnehmen? Sobald etwas Unbekanntes von außen auf uns zu kommt, gleichen wir es ab mit dem in uns schon vorhandenen, gespeicherten Wissen. Jeder Mensch reagiert also erst einmal nicht neutral und objektiv, sondern auf Grund seiner Geschichte, seinem Umfeld, seiner Erfahrungen, seiner Erziehung. Sein vorhandener Wissensstand, sein Grundwesen bestimmen maßgeblich das, was er sieht und sehen kann.

Wirklich neutral und förderlich wäre: Es handelt sich um ein neues, weltweit extrem ansteckendes Virus. Mal sehen, was es für eines ist, wie es sich verhält und wie man sich am besten schützen kann. Und so lange all das nicht wirklich klar ist: Obacht! Und Vorsicht, Kooperation und planvolles Handeln wären extrem förderlich, um die Weltwirtschaft in gesündere, nachhaltigere Bahnen zu lenken, anstatt Sündenböcke zu suchen.

Eines bleibt darum vorerst trotz aller Lockerungen unterbunden: keine größeren Versammlungen und Veranstaltungen. Und schon gar nicht in geschlossenen Räumen. Und das betrifft auch Groß Borstel mit unserem Stavenhagenhaus. Es ist ab dieser Woche zwar für kleine Gruppen – jeweils nur eine pro Stockwerk! – geöffnet. Aber die monatlichen Mitgliederversammlungen und Veranstaltungen vom Kommunalverein müssen leider weiterhin ausfallen.

Schauen wir mal, wie es nach den Sommerferien, im September, aussieht. Vielleicht sind wir der Wahrheit über Corona bis dahin etwas nähergekommen!

Herzlich
Ihre Ulrike Zeising