Ausgeliefert – was Paketdienste Ihren Kunden zumuten

Die schöne neue Welt ist bestückt mit superteuren Handys, die manchen Menschen ans Ohr gewachsen zu sein scheinen, denen damit die gesamte Warenwelt offensteht. Nur einen Mausklick oder ein Fingerschnippen entfernt, tags drauf kommen fleißige Paketboten und bringen neue Schuhe, Bücher, ja sogar Lebensmittel – auch in den fünften Stock.

Welch‘ eine Erleichterung! Musste man in der Alten Welt doch tatsächlich noch zu Fuß zum nächsten Fachgeschäft tapern oder gar auf den Markt, um Gemüse zu kaufen. Traf Nachbarn, verhedderte sich im Klönschnack. Amazon fresh bringt es dir, mit Prime-Abo sogar kostenlos. Herrlich Alexa, nicht wahr?

Genau. Es ist nicht herrlich. Es ist auch nicht wahr. Das Gegenteil ist richtig: DHL, Amazon, GLS und Konsorten schränken ihre Dienste immer mehr ein. Das Problem ist, dass Pakete nicht ins Haus gebracht werden oder falsch geliefert werden.

„Paket ist beim Nachbarn“, steht auf vielen Zetteln von Zustellern. Das könnte eine Quizfrage bei „Wer wird Millionär?“ auslösen. Denn: Wer ist der Nachbar? Herr Müller, Frau Demir, Familie Lehmann? Bevor Günther Jauch den entscheidenden Tipp geben kann oder man den Telefon-Joker angerufen hat (Vorsicht: Warteschleife!), klingelt schon der nette Nachbar und steht vor der Tür. Mit dem Paket.

Ganz schlimm wurde es in letzter Zeit für viele Groß Borstelerinnen und Groß Borsteler, die die gelbe Karte von DHL bekommen haben. Mit der gelben Karte droht bekanntlich der Platzverweis. In diesem Fall nach Schnelsen in die Frohmestraße. Dort gibt es einen winzigen Paketshop, bei dem man das Paket abholen soll.

Für Jan Peter Löning aus der Woltersstraße ist das eine Zumutung. Er braucht, so hat er ausgerechnet, mit dem ÖPNV zur Frohmestraße etwa 40 Minuten reine Fahrtzeit – im Idealfall, wenn die Busse pünktlich kommen und das Umsteigen schnell genug klappt. Vor dem Paketshop dann 25 Minuten Wartezeit, weil eine Warteschlange von potenziellen Paketempfängern vor ihm dran ist. Und dann das ganze Stück zurück. Manchmal weiß man auch gar nicht, was für ein Paket dort auf einem wartet. Ist es schwer, ist es groß? Kann man es tragen? Alles Fragen, die sich viele, besonders aber ältere Menschen stellen.

„Früher haben wir uns den Wein bestellt“, berichtet Else Mayer dem Boten. „Das machen wir heute nicht mehr. Das Paket können wir doch gar nicht mehr tragen.“

Frau Mayer kauft bei Edeka Wagner in der Nähe ein und verzichtet weitgehend auf die Belieferung mit Paketdiensten. Auch die Packstationen, zu denen man alternativ liefern lassen kann, sind keine Alternative für Else Mayer. Die nächste Paketstation ist bei Rewe, einen Kilometer entfernt. „Da wissen wir nicht: Wie schwer ist das Paket? Für ältere Menschen ist das keine Lösung.“ Und sie fügt hinzu: „Manchmal sind die Stationen defekt. Dann kommt man überhaupt nicht an das Paket heran.“

Es ist eine Zumutung. Und eine zunehmende Rücksichtslosigkeit. Ältere Menschen oder Menschen mit eingeschränkter Gehfähigkeit werden in der schönen neuen Welt der Paketdienste vollkommen ignoriert. Das ist umso unverständlicher, weil sie für die Lieferung an die Haustür teuer bezahlt haben.

Es kommt immer häufiger vor, dass die Anlieferung gar nicht erst versucht wird. Die Paketdienstmitarbeiter werfen dann einen Abholschein (Verdammt, die gelbe Karte!) in den Briefkasten und ersparen sich die komplette Anlieferung. Das schont den Rücken und spart Personal bei DHL & Co. Dass die Paketboten gut bezahlt werden, kann ohnehin niemand ernsthaft behaupten. Bei DHL, UPS und FedEx bekommen sie zumeist Festgehalt, bei Hermes, DPD, GLS und Amazon sind sie als prekär bezahlte Subunternehmer mit eigenem Lieferwagen unterwegs. Nach Abzug der Kosten bleiben dann, so meint zum Beispiel das Vergleichsportal Accountable über den Verdienst von selbstständigen Amazon-Paketzustellern, ein Stundenlohn von zehn Euro – wenn man es in dem von Amazon vorgegebenen Zeitfenster schafft, alle Pakete zuzustellen. Wenn nicht, liegt der Stundenlohn „deutlich“ niedriger. Kein Grund also zur Zufriedenheit.

Schuld sind nicht die Zusteller, sondern die Unternehmen. Sie zentralisieren und setzen auf selbstständige bzw. scheinselbstständige Abholstationen. Else Mayer hat sich zum Beispiel bei der Postfiliale im Tibarg-Center erkundigt. Dort musste man zwar auch immer lange warten, doch die Kunden blieben nicht im Regen stehen, wie in der Frohmestraße. Die freundliche Dame in der Poststation im Tibarg-Center meinte zu Frau Mayer: „Wir sind keine Paketstation mehr. Die Pakete werden alle in die Frohmestraße geliefert.“

Ein riesiges Einzugsgebiet: Schnelsen, Niendorf, Groß Borstel – alles in die winzige Paketstation Frohmestraße? Mehr noch: Hinter vorgehaltener Hand wurde erzählt, DHL plane ein riesiges Paketzentrum in Schnelsen in der Nähe von Ikea, nach Fertigstellung sollen dann alle kleinen Paketstationen, wie die in der Frohmestraße, aufgelöst werden.

Auch das Angebot der Paketstation bei Edeka Wagner in der Borsteler Chaussee ist als Abholstation eingeschränkt worden. „Zu uns werden die Pakete automatisch nur geliefert“, berichtet Natalie Bercher, die junge Frau am DHL-Tresen im Edeka-Markt, „wenn man sich auf der Webseite bei DHL dafür registriert hat.“ Grund der Einschränkung scheinen Platzprobleme im Laden zu sein.

„Ich könnte sofort loslegen“, meint Giulio Erdogan, der Besitzer des Lotto- und Zeitschriftenladens neben Budni in der Borsteler Chaussee. Sein Laden ist voll unterkellert. Dort könnten die Pakete zwischenlagern. „Groß Borstel hätte damit eine Super-Paketstation. Genau im Zentrum.“

„Und, hast du bei DHL gefragt?“

„Sieben Mal. Und sieben Mal ist der Antrag abgelehnt worden.“

DHL wollte höchstens die Rückgabepakete über den Lottoladen abwickeln lassen. Das wollte Giulio Erdogan nicht.

„Wenn, dann sollte es für Groß Borstel das komplette Paket sein: mit Briefmarkenverkauf, Paketversand und Abholung. Alles andere macht wenig Sinn. Aber DHL wollte nicht.“

Dem Grunde nach zerstören die Paketdienste die lebendigen Städte. Nachdem Supermärkte seit den 60er-Jahren den Facheinzelhandel aus den meisten Stadtteilen verdrängt haben, greifen die großen Versender jetzt während der Pandemie die Supermärkte und den restlichen Einzelhandel an. Möbel, Haushaltsgeräte, Unterhaltungselektronik, Lebensmittel, Medikamente – das komplette Sortiment eines absurd großen virtuellen Kaufhauses ist auf der Straße unterwegs in kleinen Paketwagen, gesteuert von freundlichen, fleißigen, aber chronisch unterbezahlten Paketfahrern.

Das Vertriebsmodell der großen Versender setzt darauf, überhaupt keine Läden mehr zu unterhalten. Keine Möbelverkäufer, die sich die Beine in den Bauch stehen. Keine Verkäufer, die die richtige Größe für den Schneeanzug des Kleinen wissen. Keine Schuhe, die man anprobieren kann. Alles läuft online. Ein gigantischer Konkurrenzvorteil.

Allerdings dürfte das Vertriebsmodell sofort zusammenbrechen, wenn die vielen Paketwagen sich an die Verkehrsregeln halten müssten. Die meisten parken in zweiter Reihe, versperren Parkplätze und Einfahrten. Halten kurz, klingeln bei drei bis vier Anlaufstationen, stellen die Pakete dort zu – oder die gelbe Karte. Halten vielleicht fünf Minuten, und dann weiter zur nächsten Ordnungswidrigkeit.

Würde ein Facheinzelhändler gegen diese gigantische Wettbewerbsverzerrung klagen, gegen ein Geschäftsmodell, das insgesamt nur auf Grundlage eines regelmäßigen Gesetzesverstoßes funktioniert, er bekäme vermutlich recht.

Und würde die Polizei diese Zweite-Reihe-Parker konsequent mit Bußgeldern belegen (Einnahme: 55 bis 90 Euro pro Verstoß), sie wäre plötzlich reich. Aber die vielen fleißigen Paketzusteller gingen pleite. Sie bekämen viele Flensburger Punkte statt Pakete und hätten bald keine Fahrerlaubnis mehr. Und einen Job weniger.

Dezentral wäre die deutlich intelligentere Lösung, sprich: Der Trend heißt Verdorfung. Einen neuen Paketdienst im Stadtteil etablieren ist allemal besser, als verärgerte Paketempfänger durch die Gegend zu scheuchen.

Liebe DHL-Presseabteilung, können Sie bitte einmal bei Ihren Kollegen nachfragen, ob für Groß Borstel eine bessere Lösung realisierbar wäre? Wir hätten da noch einen freundlichen jungen Lottounternehmer, der gerne für Sie arbeiten würde.

Text und Fotos: Uwe Schröder; Foto vom DHL-Wagen: Adobe Stock