Matthias Oppermann
Fragmente – Über das Sehen, Erinnern und Zusammenfügen
Zum Konzept einer Ausstellung
Wie konstruieren wir unsere Wirklichkeit? Was bleibt zurück – und was entsteht aus dem, was fehlt? Diese Fragen standen am Anfang eines Gedankengangs, der zur Ausstellung »Fragmente« geführt hat. Drei Szenen haben mich besonders beschäftigt:
1. Erinnerungsfragmente
Ich befinde mich in meinem alten Kinderzimmer in München. Mithilfe einer 3D-Scan-App fange ich den Raum ein – doch das Ergebnis sind zersplitterte, fragmentarische Bilder. Teile des Zimmers, Teile meines Körpers – nichts erscheint ganz. Ich denke: Auch meine Erinnerungen an diesen Ort sind bruchstückhaft. Und doch erzähle ich mir aus diesen Fragmenten eine kohärente Lebensgeschichte. Als Menschen sind wir offenbar in der Lage, aus Unvollständigem eine innere Ordnung zu schaffen – aus Lücken ein überzeugendes Narrativ. (Das mitgeschickte Bild ist daraus entstanden)
2. Ortsfragmente
Ich lebe seit einiger Zeit in Groß Borstel, kenne jedoch nur einzelne Orte dieses Stadtteils. Trotzdem ist in mir ein vollständiges Bild entstanden – eine innere Landkarte, gebaut aus zufälligen Fragmenten. Was fehlt, wird ergänzt. Das Ganze entsteht im Kopf.
3. Meinungsfragmente
Auch unsere politischen Haltungen basieren häufig nicht auf umfassendem Wissen, sondern auf vereinzelten, oft ungesicherten Fakten. Dennoch vertreten wir unsere Meinungen mit Überzeugung. Es sind wiederum Narrative, gebaut aus Fragmenten – mit vielen Leerstellen, die nicht gesehen oder bewusst ignoriert werden.
Diese Beobachtungen berühren mich, nicht zuletzt als Psychoanalytiker. Denn aus analytischer Perspektive sind es gerade diese Leerstellen, diese sogenannten Skotome der Wahrnehmung – das, was fehlt oder verdrängt wird – die besonders aufschlussreich sind. Ich erinnere mich an die Erzählungen meines Vaters vom Krieg: Das Schreckliche war ausgelöscht, übrig blieben Geschichten über Kameradschaft. Auch hier: Fragmente, verdichtet zu einem Mythos. Was ausgelassen wird, ist oft das Entscheidende.
Von der Skotomie zum Fragment
Ursprünglich dachte ich daran, die Ausstellung »Skotome« zu nennen – als Verweis auf das Unsichtbare in unseren Geschichten. Doch in der Diskussion mit der Künstlergruppe einigten wir uns auf den Begriff »Fragmente«. Denn Fragmente beinhalten nicht nur das, was fehlt, sondern auch das, was sich nicht (mehr) verbinden lässt. Die Lücken, Brüche, Widersprüche – und die Zwischenräume.

Fragmente in der Kunst
Die Kunstgeschichte kennt das Fragment als Form seit langem. Marcel Duchamp sprach 1934 gegenüber Anaïs Nin von der „Zeit der Fragmente“. Entwicklungen in Physik und Psychoanalyse hatten das Bild einer einheitlichen, geordneten Welt erschüttert. Die Kubisten zerlegten Stillleben, die Surrealisten kombinierten Unvereinbares. Künstler suchten nach Bildern für das Unsagbare, für das, was jenseits von Sprache liegt. Die amerikanischen Abstrakten wandten sich vom Gegenstand ab, um den Zwischenraum sichtbar zu machen – das Nicht-Gezeigte, das Andeutbare, den Halbschatten.
Der Zwischenraum braucht einen Rahmen
Das Fragmentarische eröffnet Räume – für Assoziationen, für neue Sichtweisen, für schöpferische Prozesse. Doch damit sich dieses freie Spiel entfalten kann, braucht es einen geschützten Rahmen. In der Psychoanalyse ist es der sichere, anonyme Raum, der das angstfreie Assoziieren überhaupt erst ermöglicht. Nur innerhalb einer stabilen Struktur können sich die inneren Bewegungen zeigen, ohne sofort kontrolliert oder bewertet zu werden.
In der Kunst ist dieser Freiraum durch das Grundgesetz garantiert: Die Freiheit der Kunst bildet den Rahmen, in dem Neues entstehen darf – auch Unfertiges, Widersprüchliches, Verstörendes. Kunst darf sichtbar machen, was sonst verdrängt wird. Doch dieser Freiraum ist nicht selbstverständlich. Wie Hanno Rauterberg in seinem Buch „Wie frei ist die Kunst?“ beschreibt, geraten diese Schutzräume zunehmend unter Druck. Im Namen politischer Sensibilität, gesellschaftlicher Debatten über Moral, Wokeness oder Identität wird Kunst heute verstärkt hinterfragt, abgehängt, zensiert.
Die Gefährdung dieses Rahmens ist ein Symptom tiefer liegender gesellschaftlicher Veränderungen – und führt über zu dem, was viele Menschen heute bewegt: eine wachsende Verunsicherung, Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle.
Wenn Angst den Raum verengt
In meiner therapeutischen Praxis begegnet mir immer wieder eine tiefe Verunsicherung: die Angst vor Kriegen, vor gesellschaftlichem Zerfall, vor dem Verlust vertrauter Ordnungen. Diese Ängste sind nicht unbegründet – sie spiegeln reale Entwicklungen. Die Welt ist komplex geworden, widersprüchlich, schwer einzuordnen. Was gestern noch als richtig galt, wird heute in Frage gestellt. Wohlstand und Konsum geraten in ein moralisches Spannungsfeld: Wer genießt, zerstört zugleich. Wer schützt, grenzt aus. Die gewohnten Narrative tragen nicht mehr.
In dieser Unsicherheit wird das Fragmentarische nicht mehr als Raum des Möglichen erlebt, sondern als Bedrohung. Gerade das, was zwischen den Fragmenten liegt – das Offene, Ungewisse, Uneindeutige – ruft nun Angst hervor. Und wo Angst herrscht, wächst das Bedürfnis nach Kontrolle. Es entstehen rigide Sichtweisen, konservative Rückzugsbewegungen, Sehnsucht nach autoritären Antworten. Das Fremde wird zum Feind, Veränderung zur Gefahr.
Auch auf lokaler Ebene zeigt sich dieser Prozess: In Groß Borstel etwa eskalierte die Diskussion um ein geplantes Café im Stavenhagenhaus. Die Sorge, Kinder könnten dort nicht mehr „in Ruhe und Sicherheit“ aufwachsen, offenbarte keine sachlichen Argumente – sondern tiefliegende Ängste und eine immer rigider werdende Wahrnehmung. Es ist, als hätte sich eine innere Landkarte verhärtet. Die Vielfalt der Welt wird nicht mehr wahrgenommen, sondern ausgeblendet.
Eine Einladung zur Offenheit
Hier sehe ich die Aufgabe der Kunst – und den Sinn dieser Ausstellung. »Fragmente« will genau jenen Raum zwischen den Bruchstücken wieder zugänglich machen. Einen Raum für Assoziationen, Widersprüche, Gefühl. Einen Ort, an dem Uneindeutigkeit nicht beängstigt, sondern zum Ausgangspunkt von Erfahrung wird.
In der Ausstellung begegnen sich unterschiedliche Künstler:innen mit je eigenen fragmentarischen Sichtweisen auf die Welt. Ihre Werke eröffnen einen Resonanzraum – nicht nur zwischen den Bildern, sondern auch zwischen Kunst und Betrachter:in. Die Ausstellung wird so zum sozialen Experiment im Sinne einer Beuys’schen »sozialen Plastik«. Es geht dabei nicht um das einzelne Werk, sondern um die Zwischenräume. Um das, was in der Begegnung entsteht. Um das, was sichtbar wird, wenn man sich auf das Fragmentarische einlässt – ohne Angst.


