Bücher für Hamburg und Groß Borstel (II)

Beim Übergang vom 19. Ins 20. Jahrhundert kam die Bewegung der Öffentlichen Bücherhallen in Schwung und einer der ersten Direktoren, wenn auch nur von 1901 bis 1903, war Dr. Ernst Schulze. Schulze war eigentlich Lehrer und hatte dann in Bibliotheken in Berlin und Bonn gearbeitet, bevor er das Amt in Hamburg übernahm. Er wohnte in Groß Borstel in der damaligen Violastraße Nr. 16 (heute Köppenstraße). Dr. Schulze hatte sich einen Bildungsauftrag für die Arbeiter und den Kampf gegen die inzwischen verbreitete „Schundliteratur“ auf die Fahnen geschrieben. Schundliteratur waren die Fortsetzungs- und Serienromane mit wenigen Seiten, die von fahrenden Händlern an der Haustüre verkauft wurden. Für seinen Kampf gründete er einen eigenen Verlag, die „Deutsche Dichter- und Gedächtnisstiftung“, mit Sitz in der Woltersstraße, und druckte „hochwertige Literatur“, deutsche Klassiker, Gedichtbände und Märchen nach oder kaufte Restauflagen, um die Bücher an Büchereien und Bibliotheken zu verteilen. Die Stiftung lebte von Spenden. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges ging der Stiftung jedoch das Geld aus, und sie musste ihren Betrieb einstellen. 1917 ging Dr. Schulze nach Leipzig.

Die Hamburger Öffentliche Bücherhalle überlebte indes den Ersten Weltkrieg und vergrößerte sich bis 1927 auf sechs Filialen. In der Nazizeit wurden die Bücherhallen zwar auch gleichgeschaltet, aber die Zahl der Stadtteilbüchereien vergrößerte sich, weil die neuen Machthaber ein großes Interesse daran hatten, ihre Botschaft in genehmen Büchern im Volk zu verbreiten.

Nach dem Krieg, im Jahr 1949, zählten die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen (HÖB) 16 hauptamtlich geleitete Stadtteilbüchereien, eine Musikbibliothek, eine Ergänzungsbücherei und 57 nebenamtlich geleitete Ausgabestellen in Randgebieten und Vororten. In den folgenden Jahren wurden viele Bücherhallen wiedereröffnet oder Volksbüchereien integriert, so auch am 12. Oktober 1962 die Bücherhalle im Stavenhagenhaus. 1975 zählten die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen nun eine Zentralbibliothek, eine Musikbücherei, 56 Stadtteilbüchereien, zwei Fahrbüchereien und 71 nebenamtlich geleitete Ausgabestellen. 1988 war die Zahl der neben- und ehrenamtlich geleiteten Ausgabestellen auf 82 angewachsen.

Im Januar 1990 kam Kirsten Marschall als Mitarbeiterin zur Bücherhalle ins Stavenhagenhaus. Nach ihrem Studium des Bibliothekswesens war dies ihre erste Anstellung. Wie ihr Kollege Sven J. Olsson arbeitete Kirsten Marschall auf einer halben Stelle, zu den Öffnungszeiten der Groß Borsteler Bücherhalle, dienstags und donnerstags ganztägig und am Freitagnachmittag.  Die Bücherhalle befand sich im 1. Stock des Stavenhagenhauses, in den beiden Räumen links von der Treppe, die heute als Seminarräume genutzt werden. Zu jener Zeit waren die beiden Räume noch nicht getrennt. Der Raum des Kommunalvereins diente als Büro.

Die Bücherhalle im Stavenhagenhaus erlebte nun ihre beste Zeit. Das Haus vielleicht auch. Das Angebot an Büchern war sehr gut. Auch aktuelle Zeitschriften konnten geliehen oder gleich am Ort gelesen werden. Auch Filme auf Video, darunter fremdsprachliche, gehörten inzwischen zum Leihangebot. Die Kinderbuchabteilung war für die Kinder in Groß Borstel und mehr noch für ihre Mütter geradezu ein Paradies. Wenn den Kindern zuhause langweilig wurde, konnten die Mütter mit ihnen ins nahe gelegene Stavenhagenhaus gehen und die Kinder in der Kinderbuchabteilung inmitten von spannenden Büchern und Kinderfilmen sich selbst überlassen. Auch Spiele gab es hier reichlich und konnten gleich am Ort ausprobiert werden. Die Groß Borsteler Bücherhalle pflegte auch eine enge Zusammenarbeit mit der Carl-Götze-Schule. Die Bücherhalle im Stavenhagenhaus war mehr als das, sie war auch ein Treffpunkt für die Groß Borsteler Bürger.

Sven Olsson hatte zudem eine große Affinität zum Theater und Kabarett und organisierte zusammen mit seiner Kollegin Theateraufführungen oder Kabarettabende. Olsson hatte viele Kontakte in die Künstlerszene, unter anderem zu Alma Hoppes Lustspielhaus an der Winterhuder Brücke, das im Stavenhagenhaus gerne Gastspiele gab. Bildende Künstler stellten zudem im Haus ihre Werke aus.

1996 erreichten die HÖB ihren Zenit. Der Hamburger Senat rief nun jedoch einen Sparkurs aus und begann, Zweigstellen der Bücherhallen im Hamburg zu schließen. Auch die Bücherhalle im Stavenhagenhaus stand auf der Liste. In Groß Borstel formierte sich schnell Widerstand gegen die geplante Schließung. Ein Förderverein „Groß Borsteler Bücherhalle muss leben“ wurde gegründet. Es gab sogar eine Initiative, die Bücherhalle vielleicht privat weiter zu betreiben, was sich aber nicht realisieren ließ. Auch das Bezirksamt Nord bemühte sich um den Erhalt der Bücherhalle im Stavenhagenhaus und reduzierte die Miete, um die Schließung vielleicht noch abzuwenden. Doch vergeblich. Am 30. April 1998 wurde auch die Groß Borsteler Bücherhalle gegen den Widerstand der Groß Borsteler Bürger und des Kommunalvereins geschlossen.

Kirstin Marschall wechselte in die Zentrale in der Innenstadt und ist inzwischen Leiterin der Service-Abteilung. Ihrer ersten Anstellung im Stavenhagenhaus trauerte sie noch lange nach. Sven Olsson zog nach Freiburg, gründete eine Künstleragentur und engagierte sich im deutschen Pen-Club.

Heute wäre eine Wiederbelebung einer Öffentlichen Bücherhalle im Stavenhagenhaus nicht mehr möglich: „Die Öffentlichen Bücherhallen wollen mit ihren Filialen ein großzügiges Raumangebot haben und barrierefrei sein“, erläutert Kirstin Marschall. „Außerdem möchten die Öffentlichen Bücherhallen in den Ortsteilen gut sichtbar sein. Das alles bietet das Stavenhagenhaus nicht, so schön die Zeit damals war! Außerdem gibt es in der Nähe, an der Kollaustraße in Lokstedt schon eine sehr moderne Filiale.“

Auch die älteren Groß Borsteler Bürger trauerten der Bücherhalle noch lange nach, manche noch immer. Vor dem Eingang des Stavenhagenhauses findet man noch einen Gedenkstein mit einer Erinnerungsplakette.

André Schulz