Das Bauchpinselchen

Autor: Doderer

Zu Weihnachten eine Geschichte zum Träumen. Der Autor versteckte sich unter dem Pseudonym Doderer in einem Literaturforum. Seine Identität konnte nicht geklärt werden.

Die flirrende Tonflut einer in den mittleren Lagen gestrichenen Harfe brandete an mein Ohr, als ich die Ladentüre aufschob. „Welch herrliche Türglocke!“ dachte ich (zuweilen denke ich gerne ein wenig altmodisch). Seit meiner Kindheit hatte ich keine mehr gehört. Diese Gattung von Signalgebern schien mir längst ausgestorben, zusammen mit den alten kleinen Läden, an deren Schildern noch zu lesen war „Gemischtwarenhandlung“ oder gar „Kolonialwarenladen“ – und nun – dieses prächtige Exemplar. Ich zögerte, die Klinke in der Hand, stand wie ertappt in der verklingenden Fülle der Töne und trat dann doch ein.

Ich sah mich um in dem dämmerigen, hohen Raum, betrachtete die staubdunklen Stuckornamente, die sich in den Ecken und um den Fuß der großen Hängelampe zu wahren Schnörkelwülsten aufwarfen. Ich bestaunte die bis unter die Decke reichenden, offensichtlich in den Raum eingepassten Regale aus dunklem, beschnitzten Holz, deren Schubladen mit Messingbeschlägen verziert waren. Die Einrichtung stammte sicher noch aus dem frühen 19. Jahrhundert. Seltsam, in diesem Häuserblock, der, wie die ganze ausgebombte Straßenzeile, beim Wiederaufbau radikal zur damals üblichen Gesichtslosigkeit modernisiert wurde. Der Laden lag menschenleer vor mir. Hinter mir schwang die Türe zu, ein leises Anschlagen, unmittelbar gefolgt von einem hellen Klicken verriet mir, dass sie ins Schloss gefallen war. Mit dem Einrasten der Türzunge wurden augenblicklich alle Geräusche von draußen fast bis zur Unhörbarkeit gedämpft. Entgeistert starrte ich auf das kleine Schaufenster, durch das ich vor wenigen Sekunden hier herein in den Verkaufsraum gespäht hatte, neugierig geworden durch die altmodischen Goldbuchstaben, die in Augenhöhe kündeten: „Fachgeschäft für den Schmeichelbedarf“. Wie konnte das einschichtige dünne Glas den Verkehrslärm, der jetzt zur Mittagszeit vom Stoßverkehr verstopften Hauptstraße dermaßen dämpfen, so, als läge zwischen dem Laden und den vier Fahrbahnen ein weiträumiger Park? Wo sich doch, keine vier Meter von mir entfernt, Fahrzeug an Fahrzeug durch den sonnigen Frühlingstag schob!

Verwundert um mich blickend, trat ich an die prächtige Verkaufstheke. In den Vitrinen unter der blanken Holzplatte lagen merkwürdige Gerätschaften auf rotem Samt. Ich trat dicht an das geschliffene Glas und versuchte, die Funktion der noch nie zuvor gesehenen Gegenstände zu erraten.

Mit leisem Knarren öffnete sich die Türe zwischen den Regalen. Ein großer, leicht gebeugter Mann in den frühen Sechzigern trat auf die zum Verkaufsraum herunter führenden Stufen. Dünnes Haar lag über der hohen Stirn. Auf seiner schmalen Nase saß eine dünne Goldbrille mit Halbgläsern. Er trug eine Fliege zum groben Tweedanzug. Unpassend für einen Verkäufer schien mir seine Kleidung, eher einem Aufenthalt am Lande, auf dem eigenen kleinen Gut etwa, angemessen. Während ich ihn musterte, stieg er, ungemein elastisch für sein Alter, die kleine Treppe herunter.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte er freundlich und neigte sich ein wenig über die Theke, wohl um den Größenunterschied zu verringern, denn er war deutlich höher gewachsen als ich. Hinter ihm, oben an der kleinen Treppe, keuchte es asthmatisch. Der Kopf einer betagten Bulldogge schob sich durch den Türspalt. „Platz Ernstl!“ befahl der Mann. Offenkundig bloß der Form halber, denn der Hund warf nur für einen kurzen Blick des Vorwurfs auf seinen Herrn und hoppelte, ohne auch nur einen Moment einzuhalten, mit steifen Hüften die Stufen herunter. Während ich verlegen nach einer Antwort suchte, hörte ich das Klacken seiner Krallen auf dem Holzfußboden näherkommen.

Der Verkäufer brachte in Erwartung meiner Wünsche sein Gesicht noch eine Spur näher an das meine. Schlagartig wurde mir wieder bewusst, dass ich ohne klare Absicht, aus reiner Lust am Absonderlichen in den Laden getreten war. Ich liebe das Kuriose, dort demaskiert sich die Welt, welche ihre Wirkkräfte sonst so erfolgreich hinter dem Gewohnten verbirgt. „Ja also …“, murmelte ich und musterte verwirrt all die sonderbaren Gegenstände in der Vitrine. Ich hätte keinen benennen können, aber auf eine der ausgestellten Waren hinzuweisen und „das da“ zu verlangen, hätte mich vollends als Tölpel erscheinen lassen. Da entdeckte ich eine fächerförmig ausgelegte Reihe kleiner Pinsel mit schwarzglänzenden Holzstielen, mit Borsten aus langem rötlichem Haar, die in silberne Metalltüllen gefasst waren. „Ich interessiere mich für diese Pinsel“, sagte ich erleichtert.

„Ach, die Bauchpinselchen“, rief mein Gegenüber, strahlend, als würde er mir einen Hauptgewinn verkünden. Er öffnete von seiner Seite aus die Vitrine und zog das Schubfach mit den Pinseln heraus. „Wunderbare Qualität! Hier, fühlen Sie nur!“ Er hob einen der mittleren Pinsel hoch, schnappte mit einer unfassbar schnellen Bewegung meine bereits halb erhobene Hand, zog sie vor seine Brust und strich mit dem Pinsel über meinen Handrücken. Unglaubliches Wohlbehagen durchströmte meinen Körper. Ich hatte Mühe, gerade stehen zu bleiben. Verstört riss ich meine Rechte zurück.

Messingwaren

„Pardon“, sagte der Mann. Er zog eine sich selbst parodierende Miene der Bestürzung. In der Weise, wie man in früheren Zeiten Kindern gegenüber eine Gemütsbewegung zu spielen pflegte, überdeutlich, dabei mit ironischer Herablassung, um den anwesenden Erwachsenen verstehen zu geben, man selbst bleibe vom Gezeigten eigentlich unberührt.

Beschämt über meine unverhältnismäßige Reaktion und die ironische Antwort des Mannes, versuchte ich mich wieder in die Gewalt zu bekommen. „Ein außergewöhnliches Material“, sagte ich und streckte erneut die Hand aus.

„Nicht wahr?“ pflichtete mir der Mann mit einer Begeisterung bei, die mich auf seine tiefe Liebe zum gewählten Beruf schließen ließ.

„Wozu sind diese Bauchpinselchen gedacht?“ fragte ich.

„Wie schon der Name sagt, zum Bauchpinseln. Dieser Ausdruck bezeichnet eine gegenwärtig etwas aus der Mode gekommene Form der Schmeichelei. Sie diente in glücklicheren Zeiten wie der unseren dazu, jemanden der Prächtigkeit seiner Person zu versichern. Ein nützliches, ja geradezu unentbehrliches Werkzeug für jeden Abhängigen“, antwortet der Mann beflissen.

Ernstl war inzwischen um die Theke herangewackelt und schnüffelte vorsichtig an meinem Hosenbein. Der Geruch schien ihm zu behagen. Seine hervorquellenden Augen drehten sich nach oben, er keuchte ein wenig an meine Knie hin und wedelte zaghaft mit dem Schwanz. Sein Herr sagte strafend: „Ernstl, lass!“ Doch auch diese Aufforderung war reine Formalität. Ernstl jedenfalls nahm keinerlei Kenntnis von der Weisung. Er begann, meine Waden zu lecken. Ich beschloss im Gegenzug, das anarchische Tier gänzlich zu ignorieren. Und um nicht auch noch als Banause in Sachen Schmeichelei dazustehen, benutzte ich den Ausruf meines Gegenübers, das Thema zu wechseln. „Aus welchem Material sind diese Bauchpinsel gemacht?“ fragte ich.


Eichhörnchenhaarpinsel

„Aus Eichhörnchenhaar, genauer aus den Ohrbüscheln dieser Tiere“ gab mir der Mann eifrig Auskunft und setzte, durch mein Interesse ermutigt, in vertraulichem Tonfall hinzu: „Darf ich fragen, welchen Beruf Sie ausüben?“

„Ich bin Schriftsteller“, antwortete ich nicht ganz wahrheitsgemäß. Und zuckte im nächsten Moment zusammen, denn es wurde feucht in meinem rechten Schuh. Ernstl hatte mir einen nicht unbeträchtlichen Strahl auf das Oberleder gesetzt und schob nun ab, um irgendwo im Dunkel des Ladens weiteren restlos eigenbestimmten Tätigkeiten nachzugehen. Ich ließ mir nichts anmerken. Jemand, der sich von einem Hund anpinkeln lässt, würde als Kunde sicherlich nicht mehr für voll genommen. Locker wechselte ich mein Standbein und schüttelte unauffällig den feuchten Fuß, plauderte munter weiter dabei: „Ich schreibe Romane, Kurzgeschichten, Drehbücher, eben alles, was so anfällt.“

„Ah!“ rief der Mann begeistert aus. „Dann ist dieser Pinsel eine geradezu ideale Hilfe für Sie. Wen muss man heutzutage als Schaffender nicht alles umschmeicheln! Auftraggeber, Mäzene, Kritiker, Rezensenten, Verleger, Agenten, Lektoren und nicht zu vergessen die Leserschaft, um sie auch künftig bei der Lektüre zu halten. Jeder will hofiert werden.“

„Wie soll ich das denn anstellen – meiner Leserschaft den Bauch zu pinseln?“ fragte ich zu verdutzt. Schon die Möglichkeit den Redakteur einer Zeitung oder auch nur meinen Agenten dazu zu bewegen, vor mir seine Leibesmitte zu entblößen, um mich mit meinem Pinsel daran herumwerken zu lassen, war mir kaum vorstellbar. „Wie soll ich denn meinen Lesern an die Leiber kommen? Muss ich da durch die Lande fahren, um alle dreiundzwanzig aufzusuchen?“

Der Verkäufer hob in lächelnder Abwehr die Hände. „Man muss nicht die realen Bäuche pinseln! Es funktioniert auch vermittelt. Nehmen wir an, Sie schreiben z.B. einen Brief an Ihren Verleger. Sie fabulieren als erstes den Akt des Bauchpinselns ein, gehen dann mit dem Pinsel einige Mal sanft über diese Worte – fertig! Ihr Verleger wird den Brief mit dem größten Behagen lesen und künftig nicht anders als in herzlicher Zuneigung an Sie denken können.“

Süßholzraspel

„Na gut, packen Sie mir zwei dieser Bauchpinselchen ein“, sagte ich. Der Preis war zwar recht hoch, schien mir jedoch gerechtfertigt, angesichts des raren Materials, aus dem die Pinselborsten bestanden.

„Darf es sonst noch etwas sein?“ fragte der Mann, während er mir die in braunes Papier eingeschlagene Ware und das Wechselgeld übergab. „Ich hätte hier noch ein günstiges Auslaufmodell an Süßholzraspeln.“ Er wies auf ein chromblitzendes Gebilde hin, das mir wie der Griff eines Degens mit Zähnen dran aussah. „Oder hier“, er zog ein Rohr, mit einem roten kleinen Gummiball an einem und spitz zulaufender Tülle am anderen Ende hervor. „Eine praktische Hilfe, um jemandem Zucker in den Hintern zu blasen“, erklärte er mir augenzwinkernd. Ich zwinkerte zurück und schüttelte den Kopf. „Oder wie wäre es mit dieser Vorrichtung? Sie dient dazu, jemandem Honig ums Maul zu schmieren.“ Er deutete auf eine kleine, gebogene Walze mit aufgesetztem Glaszylinder.

„Nein“, sagte ich und schaute noch einmal über die präsentierten Stücke in den Vitrinen. Da fiel mir ein abseits am Schaufenster stehendes, deutlich moderner wirkendes Gerät auf. Ein Gebilde, bestehend aus einem Helm mit Lampe, Brille und Nasenklemme. Ich deutete fragend darauf. „Das ist die neue Arschkriech-Grundausrüstung“, sagte der Mann. Er rümpfte die Nase dabei. „Ich liebe diese Brachialmethoden überhaupt nicht, aber die Zeiten ändern sich, und das Modell verkauft sich sehr gut. Was soll man da machen?“ Der Verkäufer seufzte und schaute traurig durchs Schaufenster. Dort draußen hatte sich eine Welt entwickelt, die von den feineren Formen der Schmeichelei nichts mehr wissen wollte.

Ich legte mein Gesicht in Mitgefühl anzeigende Falten, bedankte mich und verließ den Laden – wunderbar waberte die Ladenglocke, als ich die Eingangstüre öffnete, um den Laden zu verlassen – ich blickte mich lächelnd um – doch der Verkäufer war schon wieder in Raum hinter den Regalen verschwunden. Ich sah nur noch die Finger seiner Linken, mit der er die Türe offen hielt, um dem keuchend die drei Stufen hinauf hoppelnden Ernstl einzulassen.

Helmchen

Ja – und dann eilte ich auf schnellstem Wege nach Hause, legte meine Pinselchen bereit und schrieb diese Geschichte. Und jedes Mal, wenn ich „Leser“ oder „Bauch“ schrieb, hielt ich einen Moment inne und fuhr mit dem Pinselchen sanft über den geschriebenen Absatz. Wie weich und doch elastisch der Pinsel über die Worte glitt, wie sanft und nachdrücklich zugleich er auf das Bepinselte einwirkte, das Geschriebene entspannte, die Sinne öffnete und dabei die Nerven milde anregte. Welche Lust, zu leben als eine mit Aufmerksamkeiten überschüttete, zärtlich umworbene Person! Spürst Du es auch, Du wundervoller Leser? Oder waren die teuren Pinselchen eine Fehlinvestition?